Arbeit ist Mühsal und innerweltliche Askese. Niemand darf sich der Pflichterfüllung entziehen, auch nicht die Wohlhabenden. Diese auf Gottesfurcht basierende Berufsethik propagierte Johannes Calvin (1509-1564).
Calvins geistige Hinterlassenschaft prägt bis heute unser Verhältnis zur und unser Verständnis von Arbeit. Laut dem Soziologen Max Weber (1864-1920) ist sie in das kapitalistische System übergegangen.
„Diese Arbeitsethik führt zunächst zu einem wirtschaftlichen Erfolg und schreibt dann vor, den Gewinn wieder zu investieren, um noch tüchtiger arbeiten zu können.“ (Nora Zeilinger)
Wenn es um die philosophisch-anthropologisch relevante Frage nach dem gelungenen Leben geht, sollte die bloße Pflichterfüllung gegenüber einer religiösen oder weltlichen Autorität nicht der alleinige Maßstab sein. Professor Michael Bordt glaubt an die dem Menschen innewohnenden Selbstaktivierungskräfte und versteht Arbeit als Werk, Aufgabe oder individuelle Leistung. Im Idealfall bedeutet Arbeit, eine Aufgabe zu verrichten, von „deren objektiver Attraktivität man selbst und die Gruppe, in der man lebt, überzeugt ist“. Um ihr kreatives und gemeinschaftsdienliches Potential auszuschöpfen, benötigen Menschen ein Mindestmaß an finanzieller Absicherung.
An dieser Stelle beginnen die Diskussionen um das Für und Wider eines bedingungslosen Grundeinkommens. Aufgrund des Leistungsprinzips, das zum Normalzustand geworden ist, fremdeln Teile der Gesellschaft mit dieser utopisch anmutenden Verteilung der gemeinschaftlich erwirtschafteten Mittel.
Die Stiftung Grundeinkommen begleitet den Prozess zur Findung und Weiterentwicklung eines möglichen Grundsicherungsmodells, das – unter welchem Begriff auch immer – Menschen die Möglichkeit bietet, zum eigenen Wohle und dem der Gesellschaft das eigene Potential zu entfalten.
Wir freuen uns, dass wir Herrn Mansour Aalam, den Geschäftsführer der Stiftung Grundeinkommen, für das folgende Interview gewinnen konnten. Aufgrund der Komplexität und der daraus resultierenden Länge des Interviews werden wir das Gespräch in zwei Teilen veröffentlichen.
Teil 1: Vertrauen statt Kontrolle
Mueller-denkt: Herr Aalam, vielen Dank, dass Sie uns Einblicke in die Arbeit der Stiftung Grundeinkommen gewähren. Bevor wir tiefer einsteigen eine Frage, die Sie bitte mit Ja oder Nein beantworten: Dürfen wir uns darauf freuen, dank eines – vielleicht sogar bedingungslosen – Grundeinkommens (BGE) sorgenfrei in der Hängematte liegen zu können, wann und solange wir möchten?
Mansour Aalam: Nein. Aber ich möchte Sie natürlich nicht ohne etwas Hoffnung lassen. Wenn wir es als Gesellschaft wollen, können wir uns auf ein Sozialsystem freuen, das Menschen die Existenzangst nimmt und den Freiraum schafft, gemeinsam unsere Gesellschaft voranzubringen. Beim Grundeinkommen geht es für mich um das Zusammenspiel von individueller Entscheidungsfreiheit und gesellschaftlicher Verantwortung.
Das BGE scheint vordergründig ein rein ökonomisches Thema zu sein. Schließlich geht es, wie so oft, um die Finanzierbarkeit. Überrascht es Sie, dass wir uns von philosophischer Seite nähern wollen?
Überhaupt nicht. In vielerlei Hinsicht ist die Diskussion um ein BGE eine philosophische oder normative. So nehme ich die öffentliche Debatte zum Teil auch war. Wie ist der Mensch? Wird er arbeiten oder faulenzen? Was treibt ihn an? Natürlich spielt die Finanzierung eine wichtige Rolle in der Debatte. Selbst wenn ich die Finanzierung garantieren könnte, teilt sich die Debatte noch immer entlang der Frage, ob ein Grundeinkommen überhaupt wünschenswert ist. Und dabei geht es um Wertefragen und Ansichten das Wesen des Menschen betreffend.
Nach Aristoteles verfügt jeder Mensch über ein in die Wiege gelegtes Potential, das zur Entfaltung drängt. Deshalb befriedigt es nur eine Minderheit, Tag für Tag tatenlos in der Sonne zu liegen. Das kann, so Aristoteles, kein dauerhaft erstrebenswerter Zustand sein. Halten Sie seine Vorstellung von der Natur des Menschen für zu optimistisch oder gar naiv?
Nein das glaube ich nicht. Die Psychologie stützt die These, indem sie eine Reihe von Motiven benennt, die den Menschen motivieren zu arbeiten. Existenzsicherung ist nur eines davon. Hinzu kommt das Bedürfnis, Teil von etwas Größerem zu sein, sich zu entfalten und zu wirken. Experimente haben immer wieder gezeigt, dass der Mensch eher nach Arbeit und Teilhabe strebt als nach permanentem Müßiggang und Faulheit.
Im Gegensatz zu Aristoteles war Kant der Ansicht, dass der Mensch aus so krummem Holze besteht, dass niemals etwas Gerades daraus gezimmert werden kann. Ein ernüchterndes Menschenbild, dem aber viele Politiker und Bürger anhängen. Sie haben wenig Zutrauen in die Selbstaktivierungskräfte des Einzelnen. Deshalb geht es nicht ohne Zwang und Kontrolle. Können Sie dieser Sichtweise etwas abgewinnen?
Ich teile sie nicht, aber ich kann nachvollziehen, dass Menschen zu diesen Ansichten kommen. Das ist in der politischen Theorie nicht anders. Die Menschenbilder, die den Theorien von Hobbes und Rousseau zugrunde liegen sind auch unterschiedlich. Wir dürfen unsere kulturelle Prägung in Deutschland nicht vergessen. Der Calvinismus und die Protestantische Arbeitsethik wirken bis heute nach.
Befürworter des BGE argumentieren, dass sich die Einzelnen nicht länger als „unter Betrugsverdacht stehende Bittsteller“ fühlen müssten. Das wäre ein positiver Aspekt. Andererseits würde der Staat bei einem BGE durch seine „Großzügigkeit“ auch jene an sich binden, die bislang keine Transferleistungen in Anspruch nehmen. Besteht die Gefahr, dass durch das BGE neue Abhängigkeiten geschaffen werden?
Grundeinkommen verstehen wir nicht als Großzügigkeit oder „Gnade“ des Staats. Hinter solchen Überlegungen steht das Konzept Sozialleistungen für Bedürftige. Das Grundeinkommen folgt universalistischen Überlegungen, bei denen Bedürftigkeit durch Anspruch ersetzt wird. Alle Menschen haben einen allgemeinen Anspruch auf ein Grundeinkommen. Bedürftigkeit spielt dabei keine Rolle.
In diesem Fall würde sich „Der Staat“ immer stärker zu einem paternalistischen Grundversorger entwickeln, der dem Bürger wenig Eigenantrieb zutraut.
Das muss nicht sein. Wir bewegen uns jetzt auf der Ebene theoretischer Überlegungen. So könnte man auch argumentieren, dass der Staat als Ausdruck der Gemeinschaft jeder Person ein Mindestmaß an Entscheidungsfreiraum ermöglicht, den jede Person eigenverantwortlich und selbstbestimmt auch zum Wohle der Allgemeinheit, ausfüllen kann.
Der US-amerikanische Philosoph Michael Walzer schreibt in seinem Buch „Sphären der Gerechtigkeit“, dass Mildtätigkeit auch ein Weg sein kann, sich Einfluss und Wertschätzung zu erkaufen. Kann es gelingen, diesen Negativeffekt zu vermeiden und in einem BGE kein mildtätiges Almosen des Staates zu sehen, sondern eine Grundsicherung, die wir uns als Gesellschaft wechselseitig zugestehen?
Die Unterscheidung zwischen Gebern und Nehmern würde an Bedeutung verlieren, weil wir alle Gebende und zugleich Nehmende wären. Jede Person hätte einen allgemeinen Anspruch auf die im Rahmen des Grundeinkommens definierte Leistung. Zum ersten Teil Ihrer Frage: Bislang sieht es so aus, dass beispielsweise Menschen die Hartz IV beziehen ihre Bedürftigkeit nachweisen und sich an Verhaltensvorgaben halten müssen um Sanktionen zu vermeiden.
Wie würden diejenigen reagieren, die bereits genug zum Leben haben?
Aus Ländern mit universalistischeren Systemen wie z. B. in Skandinavien wissen wir, dass die Akzeptanz für öffentliche Leistungen steigt, wenn der Anspruch allgemeiner ist und weitere Teile der Bevölkerung profitieren.
Der Begriff Einkommen wird in der Regel mit angestellter oder selbständiger Erwerbsarbeit assoziiert. Entsprechend stark könnten die Widerstände aus den Reihen derer sein, die einer geregelten Arbeit nachgehen. Wäre es im Hinblick auf die allgemeine Akzeptanz zielführender und zutreffender, von einer – die Gesellschaft verbindenden – allgemeinen Grundsicherung zu sprechen?
Absolut. Der Begriff Grundeinkommen hat seine Tücken. Die Bezeichnung bedingungsloses Grundeinkommen noch mehr. Grundsicherung finde ich als Begriff besser, obwohl er durch das aktuelle Hartz4 vorbelastet ist. Auch der grüne Begriff Garantiesicherung trifft es sehr gut.
Um die Folgen der Inflation abzufedern, hat der Staat zunächst mit dem Neun-Euro-Ticket, der Energiepauschale und dem Tankrabatt ein milliardenschweres Hilfspaket geschnürt. Es gab Kritik, weil auch Besserverdiener profitierten. Hat das BGE eine Chance, wenn der Staat nicht ausschließlich auf die Bedürftigkeit der niedrigsten Einkommen fokusiert?
Mit dem Neun-Euro-Ticket und der Energiepauschale sehen wir zwei interessante Testballone. Der Staat nutzt die Einfachheit und Geschwindigkeit pauschaler Leistungen, um in einer Krisensituation schnell zu helfen. Diese sind häufig als Gießkannenmaßnahmen verrufen, haben aber auch besagte Vorteile. Im Übrigen bedeutet es auch nicht zwangsläufig, dass bei allen das Gleiche ankommt. Die Energiepauschale wird mit dem persönlichen Steuersatz versteuert. Somit bleibt Menschen mit niedrigerem Einkommen mehr als Besserverdienenden.
Der häufigste Einwand gegen das BGE lautet, dass viele Menschen schlecht bezahlte oder unattraktive Jobs kündigen könnten. Besonders genügsame Zeitgenossen würden vielleicht ganz aus dem Erwerbsleben ausscheiden und durch Schwarzarbeit aufstocken… keine verheißungsvolle Vorstellung in Zeiten allgemeiner Personalknappheit.
Na ja, zunächst muss man feststellen, dass ein Wirtschaftssystem nicht darauf fußen darf, dass Menschen es sich nicht leisten können aus Beschäftigungsverhältnissen mit schlechten oder entwürdigenden Bedingungen auszusteigen. Zu einem freien Markt musss auch die Freiheit nein zu sagen gehören. Wenn diese Jobs wichtig sind, müssen sie so bezahlt werden, dass jemand nicht nur aus blanker Not bereit ist, sie auszuüben. Zum anderen kann es nur ein Grundeinkommen mit einem impliziten oder expliziten Gesellschaftsvertrag geben, der besagt, dass es auch eine Verantwortung gibt, zum Erhalt der Grundeinkommensgesellschaft beizutragen. Somit ist ein Grundeinkommen, solange es erwirtschaftet werden muss, nie ganz bedingungslos. Die letzte Bedingung ist: Wir müssen den Laden zusammen am Laufen halten – es ist nicht ok, sich komplett rauszunehmen. Allerdings muss das nicht zwingend eine Erwerbsarbeit sein. Carearbeit, Ehrenamt und Nachbarschaftsarbeit leisten ebenfalls einen sehr großen Beitrag. Es gibt allerdings auch Beführworter:innen des Grundeinkommens, die auch diese letzte Bedingung ablehnen.
Haben Politiker eine zu pessimistische oder realitätsferne Vorstellung von der menschlichen Psyche?
Das ist eine sehr spannende Frage, die ich gerne einer Expertin der Psychologie stellen würde.
Der Schweizer Philosoph Peter Bieri verknüpft Erwerbsarbeit mit dem Begriff Würde. Die Menschen könnten Jobs, die ihre Würde antasten, verlassen. Sie könnten aber auch, ohne die eigene Würde zu gefährden, einfache Jobs annehmen, weil sie nicht existentiell darauf angewiesen sind.
Auch das könnte eine positive Folge eines Grundeinkommens sein. Wir wissen von Menschen, die vergleichsweise niedrig bezahlte Jobs in Teil- oder Vollzeit annehmen, weil ihnen die Tätigkeit zusagt. Diese Haltung muss man sich jedoch leisten können. Das Grundeinkommen wäre in solchen Fällen sehr hilfreich.
In der angewandten Ethik steht über allem die Frage „Wie wollen wir leben?“. Nicht als Individuen, sondern als Gesellschaft. Auf Ihrer Homepage habe ich dazu wenig gefunden. Welche Rolle spielt Moral/Ethik bei Ihrer Stiftungsarbeit?
Unser Handeln ist zwar durch ein humanistisches Menschenbild motiviert. Unsere Arbeit besteht jedoch auch aus evidenzbasierten Politikempfehlungen. Das heißt: Wir führen keine moralischen Debatten darüber, wie der Sozialstaat aussehen sollte, sondern untersuchen, welche Politikmaßnahmen wirken und wie diese in Reformen münden können. Die ethischen Debatten sind wichtig, aber unsere tägliche Arbeit ist die evidenzbasierte Politikberatung.
Herr Aalam, wir bedanken uns für dieses Gespräch und freuen uns auf den zweiten Teil des Interviews, in dem wir die Besonderheiten Ihrer Arbeit näher beleuchten wollen.
Literatur (Vorwort)
Bordt, Michael SJ: Philosophische Anthropologie, Vorlesungsskript Wintersemester 2011/12, Hochschule für Philosophie München.
Zeilinger, Nora: Welche Berufsethik schreibt laut Weber der Calvinismus vor?, München 2012, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231818.
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