Unsere Gesellschaft ist verunsichert - und sie ist nervös! Ich bin es ebenfalls. Warum?
Weil zwischen den zahlreichen moralischen Fettnäpfchen kaum Platz zum Gehen bleibt: Flugreisen, Fleischkonsum, Gender-Deutsch, Diesel-Motoren. Wir erleben einen radikalen Wandel der Ansprüche an unsere Lebensgewohnheiten und Denkmuster.
Auf der persönlichen Kontaktebene ist es seit einiger Zeit verpönt, einen Menschen mit dunklerer Hautfarbe als meiner eigenen nach dessen Wurzeln zu fragen. Dabei ist diese Frage - zumindest in meinem Fall - Ausdruck eines echten Interesses am Anderen. Ich reise gerne. Ich interessiere mich für andere Kulturen. Ich weiß die Vielfalt dieses Planeten zu schätzen. Dass ich im Ausland wegen meiner hellen Haare (genau genommen sind sie grau) ständig nach meiner Herkunft gefragt werde, grämt mich nicht. Es freut mich! Der Andere kann schließlich nicht wissen, ob ich in dem Land lebe oder als Tourist nur kurz zu Gast bin. Wie auch immer, die Frage bringt uns ins Gespräch. Ich merke, was mich mit dem Fragenden kulturell verbindet oder von ihm trennt. Im Idealfall eine bereichernde Erfahrung für beide.
Von Seiten der Empörten höre ich ein alles niederwalzendes „Aber“ um die Ecke biegen: „Das kann man nicht vergleichen, denn etliche Menschen, die sich diese Frage in Deutschland ständig anhören müssen, sind hier geboren. Sie sind Deutsche!“ Richtig, aber das sehe oder höre ich ihnen nicht auf Anhieb an. Außerdem, so der Tenor der Korrekten, kann man diese Frage nicht unschuldig, d.h. ohne alltagsrassistische Färbung, stellen. Dieser Meinung bin ich nicht. Im Gegenteil, ich denke, dass diese Frage grundsätzlich erlaubt ist. Bin ich deshalb rassistisch, ohne es zu merken? Anders ausgedrückt: Befördere ich eine rassistische Grundhaltung, die nicht meinem Wesen entspricht?
Ich erlebe es [..] eher mit offenen Menschen, dass sie mich nach meiner Herkunft fragen [...]. Rassisten stecken dich in eine Schublade und interessieren sich herzlich wenig für deine Geschichte oder Erlebnisse." (Ivona Brdjanovic)
Wenn in der Frage eine Asymmetrie zum Ausdruck kommt, z.B. wenn sich der Hellhäutige dem Dunkelhäutigen gegenüber verhält wie ein Erwachsener gegenüber einem Kind, ist die Empörung berechtigt. Es gibt aber auch andere Motive. Wer weiß, vielleicht spricht dieser Mensch zusätzlich zur deutschen Sprache auch die seiner Altvorderen. Frantz Fanon, ein auf Martinique geborener philosophisch interessierter Psychiater schreibt:
„Ein Mensch, der die Sprache besitzt, besitzt auch die Welt, die diese Sprache ausdrückt“
Was für ein Gedanke! Welch ein Segen, welch ein Reichtum! Mehrere Sprachen sprechen bedeutet demnach, die Welt auf verschiedene Art und Weise zu sehen - sehen zu dürfen. Das ist ein Privileg. Ich kann daran teilhaben, wenn mir der Andere diese Eindrücke - entstanden durch die Besonderheiten der mir fremden Sprache - in unsere gemeinsame Sprache Deutsch übersetzt.
Unabhängig vom Ort der Geburt kann es sein, dass sich der Eine oder Andere zwei Ländern und Kulturen verbunden oder zugehörig fühlt. Dem Land der Vorfahren und dem Land, in das er hineingeboren wurde - oder in das er eingewandert ist. Vielleicht will der dunkelhäutigere Mitbürger (oder wie formuliert man das politisch korrekt?) gar nicht mit Deutschland verschmelzen - gar nicht Deutscher, Österreicher oder Schweizer werden. Vielleicht gefällt ihm sogar an manchen Tagen die Frage „Woher kommst Du?“ oder „Wo sind Deine familiären Wurzeln?“. Es kommt auf den Kontext, die Tagesform, die Formulierung und den Ton an. Vielleicht sieht sich der Andere durch eine derartige Frage überhaupt nicht als Diskriminierungsopfer. Falls es ihn doch irritiert oder gar stört - vielleicht kann und will er sich selbst behaupten, eventuell benötigt er die zum Teil herablassende und unangeforderte paternalistische Hilfestellung selbsternannter Tugendwächter gar nicht.
Dabei ist der Kommunikationscode einfach. Es bedarf keiner moralischen Aufladung. Wenn mein dunkelhäutiger Gesprächspartner auf meine Frage nach seiner Herkunft „Aus Rosenheim“ antwortet, dann belasse ich es dabei - dann ist er für mich ein Rosenheimer. Für mich muss ein Mensch keine helle Hautfarbe haben, um Deutscher zu sein. Hasnain Kazim ist in seinem Spiegel Online-Kommentar überzeugt,
„dass ein Deutscher oder eine Deutsche nicht weiß sein, dass er nicht Hans und sie nicht Maria heißen muss“.
Eine Frage beschäftigt mich noch: Angenommen, ich wäre das Kind deutscher Auswanderer und - nur mal als Beispiel - in Vietnam geboren: Wäre ich dann ein Vietnamese? Würde ich mich als Vietnamese oder als Deutscher fühlen? Als Beides? Würden mich die Vietnamesen als einen der ihren sehen oder als eine weiße Langnase? Vielleicht würde ich mir diese Fragen gar nicht stellen.
Literatur
Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Verlag Turia + Kant, Wien 2013.
Kazim, Hasnain: Wo kommst Du eigentlich her?, Kommentar im Spiegel Online vom 11.08.2018, https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/metwo-wo-kommst-du-eigentlich-her-darf-man-das-fragen-a-1222620.html (Stand 29.07.2019).
Brdjanovic, Ivona: Ich bin nicht von hier, Beitrag in der NZZ online vom 01.08.2019, https://www.nzz.ch/wochenende/gesellschaft/ich-bin-nicht-von-hier-ld.1496336 (Stand 02.08.2019).
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