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  • AutorenbildDer schwarze Peter

Beziehung - zwischen Nähe und Distanz

Aktualisiert: 22. Okt. 2023

Unser Philosoph ist alles andere als pflegeleicht. Was seine Freunde seit Jahrzehnten gelassen akzeptieren, fällt Frauen an seiner Seite nach wenigen Monaten zunehmend schwer. Folge: Die Beziehung verschlechtert sich rapide.


An dieser Stelle kommt die Philosophie ins Spiel. Von ihr hat er sich übrigens mehr erhofft - nämlich Antworten auf existentielle Fragen: „Wo kommen wir her?“, „Wo gehen wir hin?“. Den Alltag allzu gerne ausblendend, schweift er ab. Er denkt an den Dichter Novalis: Für den ist Philosophie Heimweh und zugleich ein Trieb, überall zu Hause zu sein. Unser Philosoph ist überzeugt, dass damit die metaphysische Obdachlosigkeit des Menschen gemeint ist. Wenn schon keine Antworten auf die Letztfragen zu erwarten sind, dann wenigstens ein paar praktische Anregungen, um sein verkorkstes Beziehungsleben in den Griff zu bekommen. Eine Gelegenheit für die Philosophie, ihren Alltagsnutzen unter Beweis zu stellen.


Kürzlich hat er wieder eine Beziehung im Frühstadium in den Sand gesetzt. Deshalb wühlt er nun im Keller in alten Seminar- und Abschlussarbeiten. Irgendwo in dem Stapel vermutet er den philosophischen Gedanken, der ihm hilft, Ordnung in sein Beziehungsdickicht zu bringen. Dabei stößt er auf Emmanuel Levinas. Über den litauisch-französischen Denker hat er anno dazumal seine Abschlussarbeit geschrieben. Eigentlich wollte er ihn für den Rest seines Lebens ignorieren. Wegen ihm hat unser Philosoph haarscharf summa cum laude verfehlt. Eine Kränkung - bis heute. Ausgerechnet bei ihm wird er fündig:


„Der Andere muss, wenn er als Anderer angenommen werden soll, unabhängig von seinen Eigenschaften angenommen werden“. (Levinas)

Besser hätte es unser Philosoph auch nicht ausdrücken können - der wünscht sich in einer Beziehung nichts sehnlicher, als vorbehaltlos angenommen zu werden. Er vermutet, dass Frauen ihn anfangs idealisieren. Er wird zur Projektionsfläche von Wünschen und Sehnsüchten. Da kann er im Laufe der Zeit nur verlieren. Zudem fürchtet er eine allmähliche Domestizierung. Um sein „Ich“ zu behaupten, fängt er an, das Trennende und Unterscheidende zu betonen.


Apropos Unterschiede: Levinas schwadroniert auf gefühlt jeder zehnten Seite von der unüberwindbaren Fremdheit des Anderen. Interessant, denkt sich unser Philosoph - der sich selbst oft fremd ist und laufend neue Facetten seiner komplexen Persönlichkeit entdeckt. Seine letzte Partnerin sprach weniger schmeichelhaft von einem unzumutbar komplizierten Naturell.


Immer noch mit der Stirnlampe im Keller sitzend, fasst er zusammen: „Ich kenne mich selbst nur bedingt und mein Gegenüber noch weniger, möchte aber uneingeschränkt ich bleiben“. Levinas’ Gedanke, den Anderen als Anderen gelten zu lassen, gefällt ihm. Er ist nämlich der Meinung, dass Frauen eher ihn umerziehen wollen, als umgekehrt.


In Levinas sieht er den thematischen Gegenspieler zu Platon und dessen Mythos von den Kugelmenschen. Fremdheit versus Verschmelzung. Unser Philosoph erinnert sich wohlig an die Antike-Vorlesung. Er hat eine Schwäche für diese Epoche - Vertreter seiner Zunft waren hoch angesehen und lebenslang von körperlicher Arbeit verschont. Der Begriff "Artgerechte Haltung" kommt ihm in den Sinn. Dann zwingt er sich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Wo war er stehen geblieben? Bei Platons Symposion und dem aufsässigen Menschengeschlecht: Um eine Revolte im Keim zu ersticken, lässt Zeus die damals noch kugelrunden, vierarmigen und vierbeinigen Wesen durch seinen Sprößling Apollon halbieren:


„Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten [sic] war, sehnte sich jedes nach seiner anderen Hälfte, und so kamen sie zusammen, umfassten sich mit den Armen und schlangen sich ineinander, […] weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten“ (Platon)

Rund 2.500 Jahre alt, zeigt sich das Liebes- und Beziehungsideal der Verschmelzung extrem robust. Obwohl er sich gedanklich lieber in der Antike aufhält, hat unser Philosoph ein aktuelles Bild vor Augen: Radfahrende Paare, die sich, vom Fahrrad bis zur Kleidung, wie eineiige Zwillinge gleichen und auf schräge Weise symbiotisch wirken. Leicht entrückt schaudert ihm bei dieser Vorstellung - zugleich ist er fasziniert von dieser Form der Zweisamkeit.


Die Gretchenfrage: Verschmelzung der Liebenden oder unüberbrückbare Fremdheit? Ihm dünkt, dass seine Mitmenschen im Innersten dem Ideal der Einswerdung anhängen. Weniger hoch im Kurs: Der Partner bleibt im Kern fremd und damit ein Geheimnis. Wie hält es unser Philosoph? Wie so oft ist er ambivalent.




Literatur

Levinas, Emmanuel: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, 4. Auflage, Verlag Alber, Freiburg 2004.

Novalis: Das allgemeine Broullion. Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1933.

Platon: Symposion, Sämtliche Werke, Band 2, 33. Auflage, Rowohlt, Hamburg 2011.


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