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Mängelwesen Mensch

Sollte der Mensch tatsächlich Gottes Geschöpf und Ebenbild sein, dann überrascht die mangelhafte Hardware. Das Tröstliche vorweg: Die Menschheit verfügt über andere überlebensdienliche Vorzüge.

Bestens gerüstet

Ich, der Autor dieses Beitrags, bin ein morphologisches Mängelexemplar. Kein Fell schützt mich vor winterlicher Kälte. Abgesehen von zwei Beinen und einer mittelmäßigen Kondition, mangelt es mir an brauchbaren Fluchtwerkzeugen. Mit meinem naturgegebenen Angriffsarsenal sieht es nicht besser aus: Ich verfüge weder über Klauen noch Giftstachel. Jedes Tier ist diesbezüglich besser ausgestattet. Der einzige Trost ist, dass es allen Menschen so geht.


„[D]er Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten.“ (Arnold Gehlen)

Ein biologisches Unikum


Deshalb sieht der Philosoph und Anthropologe Arnold Gehlen (1904-1976) im Menschen einen biologischen Ausnahmefall, der hauptsächlich durch körperliche und geistig-psychische Mängel bestimmt ist. Frei von herausragenden biologischen Spezialisierungen, hält es der Mensch ohne Hilfsmittel weder in der Wüste noch im Hochgebirge lange aus. Kurz gesagt:


„Er ist von einer einzigartigen biologischen Mittellosigkeit.“ (Arnold Gehlen)

Erschwerend kommt hinzu, dass dieses sonderbare und unvergleichliche Wesen viele Lebensjahre als schutzbedürftiger und hilfsloser Nesthocker zubringt. Es ist offensichtlich:


„[I]nnerhalb natürlicher, urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein.“ (Arnold Gehlen)

Erstaunlich, dass die Menschheit trotz aller Unzulänglichkeiten so weit gekommen ist. Wie konnte sie unter diesen Umständen zum dominierenden Erfolgsmodell der Evolution werden? Um diese Frage zu beantworten, muss die Betrachtung über das Somatische, das Körperliche, hinausgehen.




Die Welt als Untertan


In der Naturentwicklung gibt es eine klare Tendenz: Mit Ausnahme des Menschen fügen sich organisch höher entwickelte Lebensformen vollkommen in ihre jeweilige Umwelt ein. Sie sind körperlich optimal an ihren Lebensraum angepasst und hochgradig spezialisiert (Gehlen).


„[I]nnerhalb dieses festen Rahmens - den es [das Tier, Anm. d. Verf.] auch trotz vorhandener Lernfähigkeit nicht überschreitet - verhält es sich ‚richtig‘.“ (Hans Joachim Störig)

Die Kehrseite der Medaille: Tiere können ausschließlich in ihrem räumlich begrenzten Milieu überleben. So ist der Anemonenfisch (auch als Nemo bekannt) ein miserabler Schwimmer, der sich hütet, sein schützendes Korallenriff zugunsten des offenen Meeres zu verlassen. Umgekehrt wird ein Hochseehai im tropischen Flachwasser verkümmern. Die meisten Tiere sind auf Gedeih und Verderb an ihren nicht auswechselbaren Lebensraum gebunden. Wird dieser zerstört oder verschwindet ihre spezielle Nahrung, ist ihr Schicksal besiegelt.


„Der Mensch dagegen hat, morphologisch gesehen, so gut wie keine Spezialisierungen.“ (Arnold Gehlen)

Getreu dem Sprichtwort „Selten ein Schaden ohne Nutzen“, haben sich diese körperlichen Nachteile als Vorteil entpuppt. Der Mensch kompensiert seine Schwächen mit Fähigkeiten, die über das Psychisch-Körperliche hinausgehen. Dank ihnen ist er nicht regional gefesselt. Indem er seine Umwelt bewusst gestaltet und Hilfsmittel erfindet, die seine körperlichen Unzulänglichkeiten ausgleichen, findet er sich handelnd in verschiedenen Milieus und Biotopen zurecht.


„Handeln ist die auf Veränderung der Natur gerichtete, seinen eigenen Zwecken dienende Tätigkeit des Menschen.“ (Hans Joachim Störig)


Der Mensch als weltoffenes Wesen


Der Mangel an Instinkt und sensorischen Fähigkeiten wird durch die Weltoffenheit des Menschen ausgeglichen. Was bedeutet das? Der Mensch ist in der Lage, die Natur so zu verändern, dass sie streng genommen nicht mehr Natur ist. Vieles von dem, was wir für natürlich halten, ist bewusst nutzbar gemachte Kulturlandschaft. Die Natur ist Menschenwerk und damit Kultur (Störig).


Kultur ist in einem weiten Sinn zu verstehen. Sie umfasst alles, was der Mensch mit seinem Geist und den Händen schöpferisch hervorbringt. Störig zählt zu den kulturellen Errungenschaften auch die Gesetze und staatlichen Institutionen.


Für ihn sind soziale Institutionen eine äußere Stützen für die innere Orientierung und Ausrichtung des Einzelnen. Sie sind das Nest, das sich der Mensch in die Natur hineinbaut, um sie für sich bewohnbar zu machen.


Organisch ein Mängelwesen, hat sich der Mensch als zweite Natur eine künstliche und für seine Zwecke passend gemachte Ersatzwelt geschaffen. Weltoffenheit bedeutet, nicht auf einen angestammten Lebensraum angewiesen und fixiert zu sein, sondern sich alle möglichen Terrains nutzbar zu machen. Für Arnold Gehlen war der Mensch aufgrund seiner biologischen Defizite von Anfang an zu dieser Art der Naturbeherrschung gezwungen.


Die Tatsache, dass der Mensch fast ohne die Leitung ererbter Instinkte auskommen muss


„[...] erklärt seine Anfälligkeit, seine Verführbarkeit; es erklärt auch das hartnäckige Streben aller menschlichen Gemeinschaften, Ordnung zu schaffen […].“ (Hans Joachim Störig)


Über den Rand hinaus


Anders als das Tier, gibt sich der Mensch nicht damit zufrieden, einfach möglichst unbeschadet für eine Weile zu existieren. Der Mensch möchte mehr als nur überleben.


Als denkendes und weltoffenes Wesen hat er das Bedürfnis, sein Dasein und seine Stellung in der Welt zu deuten. Er sucht nach einem Sinn, der über das Weltliche hinausgeht und als Letztfrage den Bereich der Transzendenz - wer mag, kann es das Göttliche nennen - berührt.


Wilhelm Gottfried Leibniz' Grundfrage, „[...] warum es eher Etwas als Nichts gibt“, zeugt von dem Jahrtausende alten Wunsch, hinter den „Schleier“ der Phänomene zu blicken und das Grundsätzliche zu verstehen. Mit Johann Wolfgang von Goethes Worten: Der Mensch möchte erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält.


Dabei ist der Mensch mehr als ein Registrierapparat des Wirklichen (Friedrich Paulsen). Deshalb hat er nicht bloß Wissenschaft, sondern auch Kunst, Glaube und Religion. Er hat die Hoffnung, sinnvoll in einen größeren, die eigene Lebenszeit überdauernden, Zusammenhang eingebettet zu sein. Dass sich der Mensch diese Fragen stellt, ist dem Dichter Novalis (1772-1801) zufolge, Ausdruck einer metaphysischen Obdachlosigkeit.


Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist zudem eng mit der Wesensbestimmung des Menschen verknüpft:


„[E]s gibt ein lebendiges Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein ‚Bild‘, eine Deutungsformel notwendig ist.“ (Arnold Gehlen)

Dieses Bild bestimmt darüber, wie man sich zu seinen eigenen Antrieben und Verhaltensweisen stellt. Darüber hinaus hat es einen Einfluss darauf, wie man anderen Menschen begegnet. Der Mensch muss, indem er sein Wesen deutet, Stellung beziehen. Er kann nicht neutral bleiben, sondern sich entscheiden, welche Art von Mensch er sein möchte.


Diese Aufgabe bleibt dem Tier in seiner Naturfesselung erspart. Es ist sinnlos, in Bezug auf tierisches Verhalten von moralischem oder unmoralischem Verhalten zu sprechen. Ohne dem Tier Emotionen abzusprechen, ist dessen Existenz zutiefst funktional und damit a-moralisch. Von evolutionären Anpassungen abgesehen, ist das Tier fertig.


Anders der Mensch: Nietzsche schreibt in Jenseits von Gut und Böse vom „Menschen als das noch nicht festgestellte Tier“. Das legt zwei Deutungen nahe: Erstens gibt es keine umfassende Feststellung dessen, was der Mensch ist. Zweitens wirkt der Mensch im Vergleich zum Tier „unfertig“. Es scheint, als habe er als Gattung seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden.





Literatur

Gehlen, Arnold: Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2016.

Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999.

Novalis: Das allgemeine Broullion; Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1993.

Paulsen, Friedrich: Einleitung in die Philosophie, 36.-38. Auflage, Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart/Berlin 1923.

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 6. Auflage, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2011.









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