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Ode an Martin - und die Sprache*

Aktualisiert: 12. Dez. 2022

Danke Martin! Dafür, dass Du (verzeih bitte die legere Anrede) mein Verständnis der deutschen Sprache verändert und erweitert hast. Zugegeben, Dein Spleen, alltagssprachlich gängige Begriffe zu zerlegen, um sie mit Binde-strichen wieder aneinander-zu-fügen, ist gewöhnungsbedürftig. Wie Du siehst, ist mir Deine Methode in Fleisch und Blut übergegangen.


Dein Bindestrich-Fetisch ist mehr als Exzentrik. Ich sehe darin den Ausdruck eines Suchenden. Um zu finden, wühlst Du – wie Dein Zeitgenosse Ludwig Wittgenstein (1889-1951) – in den Tiefen der Sprache. Es geht Dir um höchstmögliche Präzision. Was Dich umtreibt: Mal bezeichnet ein Begriff dieses Phänomen (Bank als Geldinstitut), mal jenes (Bank als Sitzgelegenheit). Solche äquivoken Begriffe sind nicht Dein Ding. An deren Existenz kannst Du nicht rütteln. Aber Du kannst neue Worte erfinden (z. B. Jemeinigkeit) oder vorhandenen Worten eine Bedeutung Deiner Wahl geben. Wenn es nach Dir ginge, hätte jedes Wort einen exakt definierten Sinngehalt.


Das ist anstrengend… für Dich, der die Sprache umkrempeln muss; für Deine Leser, weil sie anfangs Tage brauchen, einzelne Worte und Sätze zu interpretieren. Als wäre das nicht herausfordernd genug, hat Deine Sprache etwas zutiefst Mystisches. Aber: Wer sich darauf einlässt wird belohnt. Ich spreche aus Erfahrung. Wie gesagt, ich verdanke Dir viel. Das möchte ich Dich hiermit wissen lassen und das Erlernte mit meinen Lesern teilen. Es wird nur oberflächlich um Deine eigenwillige Seins-Philosophie (Fundamentalontologie) gehen. Diese zu entfalten und in eine Systematik zu bringen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ich möchte zeigen, dass man durch Dich – ohne tief in Deine Philosophie einzutauchen – Worte und Sprache stets aufs Neue ent-decken kann. Nach einer Weile funktioniert das gut und macht Spaß… mir jedenfalls.


Am ergiebigsten ist die Methode, wenn ich die Vorsilbe vom Wortstamm trenne und gedanklich einen Bindestrich einsetze. Nehmen wir das Verb „verrückt“. Es geht leicht über die Lippen und hat im Zusammenhang mit einer Person meist eine pejorative, also abwertende Note („Ein Fall für den Psychiater“). Trenne ich jedoch das Präfix „ver“ vom Wortstamm „rücken“, öffnet sich eine interessantere Perspektive: „ver-rückt“ bedeutet dann, nicht am angestammten Platz (in einer Gemeinschaft) zu sein. Der Ver-rückte entspricht nicht der gesellschaftlichen Norm und deren Vorstellungen. Das mag ein soziales Problem darstellen, ein pathologisches ist es in den meisten Fällen nicht. Auf diese Weise komme ich der inhaltlichen Fülle von Begriffen näher.


Ein paar Worte über den Adressaten


Zurück zu Dir, Martin. Ich weiß, wie unbeliebt Du bei vielen Menschen bist. Das hat vor allem mit Deiner diffusen politischen Haltung und Deinem unausgewogenen Gemüt zu tun. Ich glaube nicht, dass Du im Herzen ein Nationalsozialist warst. Aber ein Opportunist in dunklen Zeiten definitiv. Spätestens jetzt ist klar, an wen sich dieser Beitrag richtet: an Dich, Martin Heidegger, den erfolgreichen Fundamentalontologen, opportunistischen Universitätsprofessor und gescheiterten Skilehrer.



Wie weit die, von Deinem philosophischen Wirken unabhängige, Ablehnung reicht, habe ich am eigenen Leib erfahren. Ein geplanter Vortrag meinerseits über Deine Welt des Man wurde kurzfristig abgesagt, weil einige dünnhäutige Teilnehmer um ihr Seelenheil bangten.

Da zeigten große Denker wie Emmanuel Levinas (1905-1995) mehr Format. Du erinnerst Dich vielleicht, dass der leidgeprüfte jüdische Philosoph in den späten 1920er Jahren bei Dir studiert hat. Aufgrund Deiner unrühmlichen Haltung während des Nationalsozialismus (und auch danach) weiß er wenig Positives über Dich zu berichten. Aber Dein Sein und Zeit hält er für „eines der schönsten Bücher in der Geschichte der Philosophie überhaupt“.


Da kannst Du Dir was drauf einbilden. Ein fachlicher Ritterschlag von einem Mann, dessen Familie fast gänzlich von den Nazis umgebracht wurde. Da stimmt der Spruch, dass das Werk vom Autor zu trennen sei. Es kommt noch besser für Dich, denn Levinas sagte in einem Gespräch mit Phillipe Nemo, dass


„jemand, der im 20. Jahrhundert den Versuch unternimmt zu philosophieren, nicht umhin kann, [Deine] Philosophie zu durchqueren, und sei es nur, um sich von ihr zu entfernen.“

und


„[Ihm] Respekt zu bezeugen, fällt mir nicht leicht, wie Sie wissen; und zwar nicht, das werden Sie auch wissen, aufgrund seiner unbestreitbaren Genialität“

Du hast also Fürsprecher und es gibt tatsächlich gute sachliche Gründe, über den eigenen Schatten zu springen und Dein philosophisches Oeuvre zu würdigen. Du dringst zum Wesenskern von Worten vor und ent-hüllst deren Innerstes. Dabei schreckst Du nicht davor zurück, Worte zu monströsen Ketten zu verknüpfen.



Wenn Sprache Amok läuft


Es braucht Übung, Deine spezielle Sprache – Kritiker sprechen von einem unzumutbaren Geschwurbel – zu entschlüsseln. Der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russel (1872-1970) kam angesichts Deiner aufwühlenden Denke und Schreibe zu folgender Diagnose:


„Highly eccentric in its terminology, his philosophy is extremely obscure. One cannot help suspecting that language is here running riot.”

Ich vermute, dass Russell über eine besonders extravagante Formulierung in Deinem Hauptwerk Sein und Zeit gestolpert ist. Vielleicht diese hier?


Sich-vorweg-schon-sein-in-(der Welt-)als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)


Verwirrend, aber eindrücklich, wie Du das Wesen des menschlichen Lebens mit einem Satz beschreibst. Ich werde ihm demnächst einen eigenen Beitrag widmen. Für heute dient er lediglich als anschauliches Beispiel für die unvergleichliche Ästhetik Deiner Sprache.


Um in Dein philosophisches Werk einzutauchen, sollte man ein paar Deiner exotischen Wortschöpfungen kennen. Wie originell diese sind, merke ich auch daran, dass jedes Korrekturprogramm an seine Grenzen stößt.


Wenn Du einverstanden bist, picke ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige zentrale Begriffe Deiner Philosophie heraus, um meinen Lesern zumindest ein Gefühl dafür zu geben, worum es Dir geht.



Abschließend einige zentrale Begriffe


Dasein/Da-sein: Ohne Bindestrich beschreibt der Begriff Dasein den Ist-Zustand „Ich bin“ oder „Du bist“. Durch die Trennung wird das prozesshafte des Da-seins und damit das Zeitliche betont. Alles ist in Bewegung und Veränderung.


Jemeinigkeit: Ich kann nur meine eigenen Gefühle fühlen und eigenen Gedanken denken. Ich kann nur wissen, was ein Gefühl ist, wenn ich es selbst spüre. Wie es ist, ein anderer zu sein, bleibt mir verwehrt. Egal, wie gut mein Einfühlungsvermögen auch sein mag, es bleibt eine unüberwindbare Kluft. Jemeinigkeit bedeutet zudem Unvertretbarkeit, die sich am eindrücklichsten Angesichts des eigenen Todes zeigt.


Uneigentlichkeit/Eigentlichkeit: Es geht bei diesen Begriffen um die alltägliche Lebensweise und die Frage, ob ich damit meine eigentlichen Möglichkeiten ergreife oder verfehle. Anders ausgedrückt, ob ich mich angepasst im Strom der Gemeinschaft treiben lasse (Uneigentlichkeit) oder das in mir Angelegte auch gegen Widerstände zur Entfaltung bringe (Eigentlichkeit).


Man-Selbst: Im Alltag lebe ich die meiste Zeit im Zustand der Uneigentlichkeit, indem ich mich den Anforderungen der Allgemeinheit beuge und nicht aus meinem eigentlichen Inneren heraus agiere. Ich habe es mir in der Welt des Man gemütlich gemacht.


Welt des Man: In dieser „Welt“ werde ich zu einem Anderen unter Anderen (z. B. bei Kundgebungen und Demonstrationen). Dominik Finkelde schreibt, dass uns diese Welt der Anderen immer näher ist als gewollt. In ihr bewege ich mich selbstvergessen und anonym im Gleichschritt (Verfallenheit).

„Wir genießen und vergnügen, wie man genießt: wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt […], wir finden ‚empörend‘, was man empörend findet.“ (Martin Heidegger)

Du nennst es die Diktatur des Man. Ihr vollständig zu entkommen ist weder möglich noch wünschenswert. Die Konformität der Welt des Man bietet auch die Möglichkeit des Rückzugs und hat damit eine entlastende Wirkung. Ich kann nicht permanent auf Abstand zu dieser Welt gehen, zumal nicht definiert ist, wo die Grenze verläuft. Zudem ist der Lebensfluss des Alltäglichen die Voraussetzung für gelungene soziale Bindungen und ein erfülltes Dasein.


Angst/Furcht: Die Furcht ist intentional, d. h. sie ist auf etwas Bestimmbares, meist ein Objekt, gerichtet (Furcht vor Spinnen, Krankheit, Armut oder vorm Fliegen). Den Auslösern der Furcht kann ich bis zu einem gewissen Grad ausweichen, indem ich die Ursache (z. B. Spinnen) meide.


Bei der Angst gibt es nichts Bestimmtes, vor dem ich mich ängstige. Es handelt sich um eine ursächlich nicht greifbare existentielle Angst. Es geht um mein „nacktes Leben“ in der mir vertrauten Welt. Die Angst findet ihren Ausdruck als Todesangst und reißt mich aus der Verfallenheit.


Sein zum Tode: Für Dich, Martin ist der Tod nicht primär der Endpunkt des Lebens. Das wäre zu trivial. Der Tod ist vielmehr (viel-mehr) ein formendes Element des Lebens. Die Einsicht und die Möglichkeit, dass der Tod jederzeit eintreten kann, prägt meine Haltung dem Leben gegenüber. Sterben ist nicht länger eine ferne Möglichkeit oder etwas, das anderen widerfährt. Eine Einsicht, die in der Welt des Man verdrängt wird. Das Sein zum Tode bietet als Kehrseite der Medaille eine besondere Erkenntnis… die Freiheit zum Tode. Angesichts der Unausweichlichkeit kann und soll ich mich für ein eigentliches Leben entscheiden.


Deine Philosophie, Martin, hat etwas Lebensbejahendes. Sie enthält zugleich den Appell, das Leben am Schopf zu packen und die aristotelische Aktive Potenz zur Blüte zu bringen.



*Streng genommen handelt es sich bei diesem Beitrag trotz des positiven und „feierlichen“ Charakters nicht um eine Ode. Die Ode ist eine antike Gedichtform mit strikten Vorgaben, den strophischen Aufbau und das Metrum betreffend. Mehr Informationen dazu unter https://www.schreiben.net/artikel/ode-6389/





Literatur

Finkelde, Dominik SJ: Heideggers „Sein und Zeit“, Vorlesungsskript, Hochschule für Philosophie, München, Wintersemester 2011/12.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 15. Auflage, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006.

Levinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Passagen, Wien 1986.









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