Unseren Philosophen plagt ein niederschwellig schlechtes Gewissen. Er glaubt, dass er sich in diesen moralgeschwängerten Zeiten permanent wegen irgendwas schämen sollte.
Gründe dafür gibt es viele: Flugreisen, Fleischkonsum oder Autofahren. All das könnte er abstellen, um sich dem Zeitgeist anzudienen. Aber damit wäre es nicht getan, denn an einer Schraube kann er nicht drehen: Er ist ein mittelalter weißer Mann - vollgestopft mit Privilegien. Soll sich der Schwarze Peter für biologische Merkmale rechtfertigen, die er sich nicht ausgesucht hat? Ja, wenn es nach der Wokeness-Bewegung geht.
Woke up!
WOKENESS (erwacht oder erweckt) ist ein junger und phonetisch aparter Begriff: kurz, prägnant und zart in der Aussprache - inhaltlich aber robust. Es geht um die Sensibilisierung im Hinblick auf strukturelle soziale Ungerechtigkeit, Rassismus oder Sexismus. Für Simon M. Ingold (Neue Züricher Zeitung) ist Wokeness weit mehr, nämlich die gesteigerte Form der Political Correctness.
„Sei wach, richte über andere, und fühle dich gut dabei.“ (Simon M. Ingold)
Wokeness wird dem Rest der Bevölkerung als Ausdruck eines höheren Entwicklungs- und Bewusstseinszustands verkauft. Tatsächlich handelt es sich um eine Weltverfallenheit, die frei ist von Spiritualität. Es ist eine moralisch erhöhte Selbstpositionierung, die dem manichäischen Dualismus ähnelt, also der Unterteilung in zwei Extreme. In diesem Fall in Gut und Böse. Wer woke ist, ist gut; alle anderen sind schlecht oder noch nicht aus ihrem ignoranten Schlummer erwacht. Das Ziel dieser Ideologie ist die Bekehrung oder Ausgrenzung Andersdenkender.
„Es geht nicht nur um ein neues Wort, sondern um eine Art, die Welt zu sehen.“ (Boris Pofalla)
Wer ist woke?
Bis vor wenigen Jahren war dieser Begriff im deutschsprachigen Raum kaum bekannt. Nun ist er in aller Munde. Wer darf von sich behaupten, woke zu sein?
„Woke ist, wer Autos und Flugzeuge als Fortbewegungsmittel ablehnt, wer sich der Fortpflanzung verweigert und Amazon boykottiert.“ (Simon M. Ingold)
…und viele Dinge mehr, denkt sich unser Philosoph. Ihm dämmert, dass er die Anforderungen, um als Woker zu gelten, niemals erfüllen wird. Da kann er sich seinen Lebensstil noch so oft schönreden. Wenn er sich an der Gesellschaft, der Schöpfung, überhaupt dem ganzen Planeten versündigt, ist es recht und billig, dass er sich schuldig fühlt. Weil er sich nicht ändern will oder kann, soll er sich zumindest schämen.
Das wirft die nächste Frage auf: Was ist Scham?
Zwei Arten von Scham
Scham ist allgemein eine Reaktion auf ein vermeintliches oder tatsächliches Scheitern. Für Inga Römer hat die Scham eine dreigliedrige Grundstruktur:
„Jemand (1) schämt sich für etwas (2) vor jemanden (3)“
Die am weitesten verbreitete Art der Scham bezieht sich auf ein Versagen in einer dem Individuum wichtigen geistigen, sportlichen, kulturellen oder handwerklichen Aktivität. Wer mal einen Vortrag in den Sand gesetzt hat, kennt das Gefühl. Der Schwarze Peter nennt dieses Phänomen die episodische Scham. Sie ist eine Reaktion auf ein Versagen im Zusammenhang mit einer konkreten Fähigkeit. Das Schamgefühl ist besonders ausgeprägt, wenn Personen anwesend sind, die hinsichtlich dieses besonderen Vermögens als kompetent angesehen werden.
„Scham ist das Gefühl des Selbstwertverlustes in den Augen der (möglichen) anderen.“ (Ernst Tugendhat)
Unser Philosoph denkt daran, dass er sich als Kind bei einer Theateraufführung in einem Indianer-Kostüm blamiert hat. Aus woker Perspektive übrigens ein klarer Fall von kultureller Aneignung.
Die moralische Scham
Von der episodischen Scham unterscheidet sich die moralische Scham. Sie entsteht, wenn das Individuum dabei scheitert, ein sozial umgängliches und kooperatives Mitglied der Gesellschaft zu sein.
„In Urteilen, in denen wir über Menschen und ihre Handlungen sagen, sie seien gut oder schlecht, beurteilen wir die Menschen nicht hinsichtlich spezieller Fähigkeiten […].“ (Ernst Tugendhat)
Vielmehr bewerten wir sie hinsichtlich ihrer Bereitschaft, sich den moralischen Normen einer Gesellschaft entsprechend zu verhalten. Der Philosoph Ernst Tugendhat (geboren 1930) unterstellt einen Pool an geteilten Werten als verbindende Basis. Damit sind soziale Erwartungen und kulturabhängige ästhetische Standards verknüpft (zum Beispiel nicht unbekleidet zu einem Meeting erscheinen). Es handelt sich um ein tradiertes Miteinander, an dem der Handelnde und sein Gegenüber gleichermaßen beteiligt sind.
„Derjenige, der gegen diese gemeinsame Basis verstößt, zieht dem anderen gewissermaßen den Teppich unter den Füßen weg, und deswegen ist im Tadel die Empörung immer schon mitenthalten.“ (Ernst Tugendhat)
Symptome der Scham
Die Mitglieder einer Gesellschaft erwarten wechselseitig voneinander, sich gemäß der geltenden moralischen Norm zu verhalten. Wer gegen diesen Kodex (von Gesetzen ist an dieser Stelle nicht die Rede) verstößt, zieht die Empörung der anderen auf sich.
Wenn eine Person moralisch versagt, kann das Gegenüber nicht emotional neutral sein. Beispiel: Wer in Corona-Zeiten eine Fernreise unternimmt, muss mit Entrüstung, d. h. der moralischen Verurteilung durch die Zuhausegebliebenen leben. Diese Normabweichung wird als charakterlichen Unzulänglichkeit gewertet. Scham ist eine emotionale Reaktion auf dieses moralische Versagen.
Durch die Augen der anderen
Das Schamgefühl ist demnach der Preis, den der Betreffende für seine Abweichung vom (vermeintlich) richtigen Weg zu entrichten hat. Die Scham ist die innere Sanktion und ein Ausdruck des Gewissens. Das funktioniert nur, weil der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich von innen zu erleben und zugleich auf sich wie auf ein Objekt zu blicken. Der Mensch ist in der Lage, auf Distanz zu sich selbst zu gehen. Er kann sein Denken und Handeln selbstreflexiv in Frage stellen. Er sieht sich durch die Augen der anderen. Das ist die Voraussetzung für das Schamgefühl.
Jean Paul Sartres spricht davon, dass der Mensch im Schamgefühl anerkennt, dass andere ihn sehen, wie er ist.
Die Scham dient als
„Wegweiser durch die soziale Welt und als Anzeiger dessen, was uns wichtig ist“. (Maja Beckers, Greta Lühr)
Die beiden Autorinnen sehen in der Fähigkeit sich zu schämen eine produktive Kraft, die auf Spielregeln, Werte und soziale Strukturen aufmerksam macht. Voraussetzung ist, dass das Individuum die Gesellschaft grundsätzlich bejaht.
„Ohne dieses Dazugehörenwollen kann es [das Individuum, Anm. d. Verf.], wenn es die entsprechenden Normen verletzt, keine Scham empfinden und keine Empörung, wenn andere sie verletzen.“ (Ernst Tugendhat)
Dieses moralische „Ich will“ unterscheidet sich wesentlich von dem „Ich will“ der Aneignung spezieller praktischer Fähigkeiten.
Die Verbindung zur Wokeness
Im Hinblick auf das moralische „Ich will“ folgt unser Philosoph seinem eigenen Kompass. Das bedeutet nicht, dass er sich kurskorrigierenden Impulsen verschließt. Er wehrt sich aber gegen illiberale Tendenzen und den volkspädagogischen Erziehungsansatz der Wokeness-Bewegung. Es gefällt ihm nicht, dass sie die Deutungshoheit darüber beansprucht, welches Verhalten und Denken opportun und zeitgemäß ist. Wer dagegen verstößt, riskiert seine beruflichen Existenz. Betroffene können sich - wenn überhaupt - nur durch Schuldeingeständnisse und öffentlich zur Schau gestellte Reue vor weiterem Furor retten. Nur Buße in Form eines symbolischen Kniefalls und die Relativierung gemachter Aussagen bewahren die „Sünder“ vor einem moralischen Tribunal.
Kurz gesagt, der Schwarze Peter will sich nicht ständig erziehen lassen und noch weniger will er sich dauernd schämen müssen.
„In einer Zeit des schleichenden Illiberalismus sind wir moralisch dazu verpflichtet, den Geist der Freiheit am Leben zu erhalten. Es ist unsere Pflicht, in einer Zeit des Konformismus frei zu denken.“ (Bari Weiss)
Literatur
Beckers, Maja u. Lührs, Greta: Serie: Die Weisheit der Gefühle/Teil 2/ Neid und Scham, Hohe Luft Magazin, Philosophie-Zeitschrift, Veröffentlicht am 26.03.2019.
Ingold, Simon M.: Wokeness heißt die gesteigerte Form der Political Correctness, in: https://www.nzz.ch/feuilleton/wokeness-gesteigerte-form-der-political-correctness-ld.1534531 (abgerufen am 09.03.2021).
Pofalla, Boris: Warum Sie das Wort „woke“ jetzt kennen sollten, Artikel in Welt+: https://www.welt.de/kultur/plus225524683/Warum-Sie-das-Wort-woke-jetzt-kennen-sollten.html (abgerufen am 20.03.2021).
Römer, Inga: Scham. Phänomenologische Überlegungen zu einem sozialtheoretischen Begriff, in: GESTALT THEORY, DOI 10.1515/gth-2017-0022 © 2017 (ISSN 2519-5808); Vol. 39, No. 2/3, 313–330.
Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik, 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2012.
Weiss, Bari: Botschaften aus einer totalitären Gesellschaft, in: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus227703515/Bari-Weiss-Botschaften-aus-einer-totalitaeren-Gesellschaft.html (abgerufen am 20.03.2021).
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