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  • AutorenbildDer schwarze Peter

Tausend kleine Festungen

Aktualisiert: 22. Okt. 2023

Vom Antlitz des schutzsuchenden Anderen geht ein Appell aus, den ich nicht ignorieren kann. Ich bin ihm gegenüber uneingeschränkt verpflichtet - ohne die Möglichkeit, diese Verantwortung abzulehnen. Immer schulde ich dem Anderen etwas. Das ist die Meinung von Emmanuel Levinas (1906-1995).


Was habe ich auf dieser Galeere zu suchen? Reicht meine Verantwortlichkeit für einen Fremden so weit, dass sie - getreu dem Motto „Genug kann nie genügen“ - grenzenlos ist? Levinas’ Ethik der maßlosen Verantwortung für den Anderen ist fordernd und oft überfordernd.



Die Verantwortung von Ländern


Von der individuellen auf die kollektive Ebene übertragen, stellt sich die Frage: Wie weit reicht die Verantwortung eines Landes, wenn es um Zuwanderung geht? Müssen Staaten jeden Fremden aufnehmen, der an die Tür klopft? Levinas, ein Vertriebener und Holocaust-Überlebender, hätte vermutlich mit Ja geantwortet. Trotz prinzipieller Bereitschaft zu helfen und auf einen Teil des gemeinschaftlichen Wohlstandes zu verzichten, ist mir nicht wohl bei diesem Un-Maß der Verantwortung. Ich glaube, dass es Grenzen der kollektiven Verpflichtung gibt und möchte diese definiert wissen.



Sphären der Gerechtigkeit


Levinas hat sich bezüglich möglicher Begrenzungen nicht eindeutig geäußert. Fündig wird man bei dem US-amerikanischen Philosophen Michael Walzer. In seinem 1983 erschienenen Werk „Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit“ hat er dieses philosophisch vernachlässigte Randgebiet beackert. Er präzisiert, unter welchen Umständen und in welchem Umfang ein Land die moralische Verpflichtung hat, seine Grenzen für Fremde zu öffnen.


Damit sind Fragen verbunden, die die Verteilung von Ressourcen betreffen. In dem Kapitel Mitgliedschaft und Zugehörigkeit skizziert er sich daraus ergebende Herausforderungen für die bestehende Gemeinschaft. Weil es sich bei der Aufnahme von Fremden um Grundsatzentscheidungen handelt, die die gegenwärtige und zukünftige Population betreffen, spricht Walzer in diesem Zusammenhang von Nervenpunkten der Gesellschaft.


„Das erste und wichtigste Gut, das wir aneinander vergeben und zu verteilen haben, ist Mitgliedschaft in einer menschlichen Gemeinschaft.“ (Michael Walzer)

Wie sich Länder zum Thema Zuwanderung und Aufnahme verhalten, sagt etwas über den Charakter aus, den sie haben oder annehmen wollen. Deshalb müssen Länder folgende Punkte klären:


  1. Wem gewähren wir Aufnahme?

  2. Wollen wir auf Aufnahmebeschränkungen verzichten?

  3. Dürfen wir eine Auswahl treffen?

  4. Wenn wir auswählen, nach welchen Kriterien?


Diese Entscheidung strukturieren die darauf folgenden Zuteilungs- und Verteilungsentscheidungen. Zudem wird damit festgelegt, „von wem wir Gehorsam erwarten und Steuern einfordern und wem wir Güter und Dienstleistungen zuteil werden lassen“ (Walzer).



Anspruch auf Hilfe


Unter gewissen Umständen haben Fremde einen Anspruch auf unsere Gastfreundschaft und die Aufnahme in unsere Gesellschaft. In Anlehnung an John Rawls spricht Walzer vom Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Es gilt unabhängig von der Herkunft und Qualifikation des Ankömmlings - und davon, ob wir den anderen mögen oder nicht. Die wechselseitige Hilfe, so Walzer, verlangt nicht, den Fremden dauerhaft im Haus zu beherbergen, ihn zu pflegen und „mich für den Rest meines Lebens mit ihm zusammenzutun“.


Aber es ist zumutbar, gemeinschaftliche Ressourcen (Landmasse und Wohlstand) mit Ankömmlingen zu teilen. Deren Begrenztheit macht eventuell eine Auswahl und Zurückweisungen nötig.



„[S]olange Mitglieder und Fremde, wie es derzeit der Fall ist, zwei voneinander getrennte Gruppen sind, müssen Zulassungsentscheidungen getroffen, Männer und Frauen aufgenommen oder abgewiesen werden.“ (Walzer)


Mildtätigkeit vor Gerechtigkeit?


Wen und wieviele heißen wir willkommen? Um die Bedeutung von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft herauszuarbeiten, widmet sich Walzer dem Phänomen der Nachbarschaft. Sie ist eine Vereinigung von Menschen, die ohne rechtlich durchsetzbare Aufnahmepolitik auskommt. In der Regel wählen Menschen ihre Nachbarschaft und bestimmen im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten wo sie leben wollen. Die bestehende Nachbarschaft hat hingegen wenig Einfluss darauf, wer sich als neues „Mitglied“ hinzugesellt. Sie ist eine Zufallsvereinigung.


Warum der Vergleich zwischen Nachbarschaft und Staatsgebilde? Walzer verdeutlicht damit den Sinn territorialer Grenzen. Es würde dem Anliegen der Verteilungsgerechtigkeit schaden, diese zugunsten eines Weltstaates abzuschaffen, denn


„[…] wenn aus Staaten jemals große Nachbarschaften werden, dann ist es wahrscheinlich, dass sich Nachbarschaften zu kleinen Staaten entwickeln.“ (Walzer)

Soll heißen: In der Folge würden sich die Mitglieder immer kleinteiliger organisieren, um ihre lokale Politik und Kultur vor fremden Einflüssen zu schützen. Fremde wären auf die Mildtätigkeit einzelner Mitglieder angewiesen. Sie hätten keinen staatlich garantierten Anspruch auf Unterstützung. Nur großräumige Strukturen und ein gut organisierter Territorialstaat können Einheimische und Fremde vor extremen Härten schützen. Wer für einen grenzenlosen Weltstaat eintritt sollte diesen Gedanken Walzers und die damit verbundenen Grenzen der Hilfemöglichkeiten kennen:


„Die Mauern des Staates niederreißen heißt nicht, […] eine Welt ohne Mauern zu schaffen, sondern vielmehr tausend kleine Festungen zu errichten.“ (Walzer)

Deshalb plädiert Walzer für den Nationalstaat und die Nationalisierung der Wohlfahrt. Walzers Folgerung:


„Nachbarschaften können nur dann offen sein, wenn die Länder, in denen sie angesiedelt sind, zumindest potentiell, geschlossen sind.“ (Walzer)


Wolle mer se reinlasse?


Sind Nationen moralisch verpflichtet, Zuwanderer aus ärmeren Ländern aufzunehmen, bis keine überflüssigen Ressourcen mehr vorhanden sind? Oder die vorhandenen Ressourcen für die Gesamtbevölkerung nicht mehr ausreichen? Die Frage, mit welchen zugewanderten Menschen die Gemeinschaft ihre sozialen Güter teilen möchte oder muss, ist eine Frage der staatlichen Oberaufsicht - geregelt durch nationale Gesetze und verbindliche internationale Abkommen (z. B. Genfer Konvention). Grundsätzlich gilt für Walzer das Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung. Haben Nationen nicht das gleiche Recht wie Familienoberhäupter, die bestimmen, wer in ihrem Haushalt lebt und wer nicht? Wenn es nach Walzer geht haben sie diese Möglichkeit nur in Ausnahmefällen.


Ein häufig angeführtes Argument für das Recht auf Zurückweisung betrifft die territoriale Ausdehnung und Bevölkerungsdichte des jeweiligen Landes.


Walzer verdeutlicht dieses Argument am Beispiel Australiens. Mit einem enormen Reichtum an Landmasse gesegnet, hätte es im Fall der Zuwanderung notleidender Fremdlinge zwei Möglichkeiten:


1.) Das „weiße Australien“ (Walzer) tritt - wenn es sich nicht mit den Ankömmlingen vermischen möchte - einen Teil seines Territoriums ab. In der Folge wird es zu einem Kleinaustralien. Jeder Teil der nunmehr erweiterten Bevölkerung lebt von da an getrennt in den zugewiesenen Landstrichen.


2.) Australien verzichtet auf seine (relative) Homogenität und entscheidet sich für eine multirassische Gesellschaft. In diesem Fall muss kein Land abgetreten werden und Australien bleibt als politisches Gebilde in seiner vollen Ausdehnung erhalten.


Nur eines kann Australien nicht: Sich vollständig abschotten und Ansprüche Schutzsuchender komplett zurückweisen.



Schickt mir eure bedrängten Massen


Walzer gesteht, dass er nicht in der Lage ist, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit oder Aufnahmepflicht zu benennen. Beinahe resigniert betont er, dass


„[…] die Moral liberaler und humaner Staaten durch die Unmoral autoritärer und inhumaner Staaten vorgegeben werden kann.“ (Walzer)

Warum dann überhaupt Asylanten abweisen und sich „nur mit Menschen befassen, die sich bereits auf unserem Territorium befinden?“ (Walzer).


„Warum die Glücklichen oder die Aggressiven, die es irgendwie geschafft haben, unsere Grenzen zu überschreiten, bevorzugen vor allen anderen?“ (Walzer)

Auch an dieser Stelle gesteht er, keine Patentantwort zu haben. Aber er weist auf eine selten thematisierte Folge der Zuwanderung hin: Die Notwendigkeit der Einbürgerung.



Zuwanderung ja, Einbürgerung nein


Folgenden Gedankengang halte ich für den bedeutendsten. Walzer begründet das Recht auf Zurückweisung auch damit, dass Zuwanderern auf Dauer die Einbürgerung gewährt werden muss. Das ist der Grund, warum die territoriale Zulassung eine ernste Angelegenheit ist. Denn die „Mitglieder einer Gemeinschaft müssen bereit sein, die Männer und Frauen, die sie in ihr Land hineinlassen, als ihresgleichen in eine Welt gemeinsamer Verbindlichkeiten aufzunehmen“ (Walzer).


„Häufig kontrolliert der Staat die Einbürgerung streng und die Einwanderung nur locker.“ (Walzer)

Dadurch werden Einwanderer zwar zu ortsansässigen Fremden aber nicht zu gleichberechtigten und gleichverpflichteten Staatsbürgern.


Die vorgelagerte Menschlichkeit und der hohe moralische Anspruch haben sich laut Walzer im zweiten Schritt verflüchtigt.


Es würde mich interessieren, wie Sie, liebe Leserin oder Leser, zu Walzers Ausführungen stehen?






Literatur

Levinas, Emmanuel: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, 4. Auflage, Verlag Alber, Freiburg 2004.

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 18. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2012.

Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gerechtigkeit, Neuauflage, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006.



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