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Flughäfen - Tempel der Moderne

Unzählige Male hat unser Philosoph ein Flugzeug bestiegen, um sein Fernweh zu stillen und dem kühlen Deutschland zu entkommen. In seiner Jugend führte Fliegen übrigens noch nicht zur sozialen Ächtung. Flugscham war kein Thema. Im Gegenteil, Fernreisen standen hoch im Kurs. So hat er sich frohen Mutes frei von Verpflichtungen im fernen Asien und Australien treiben lassen bis das Geld ausging.

Diese unbeschwerten Zeiten sind vorbei… aber sie haben den Schwarzen Peter geprägt. Ungeachtet der Klimadiskussion sind Flughäfen für ihn Sehnsuchtsorte. Jeder Blick auf die Abflug-Tafel beschert ihm wohlige Gefühle: Kapstadt, Singapur, Los Angeles, Havanna oder Kuala Lumpur. Hinzu kommen die startenden Flugzeuge. Wer bei einer majestätischen Boeing 747 nicht ins Schwärmen kommt, dem ist nicht mehr zu helfen.

 

Für unseren Philosophen beginnt jede Reise mit der Wahl der richtigen Fluggesellschaft. Lufthansa bucht er nur im Notfall… zu sachlich, spröde und teuer. Er bevorzugt Singapore Airlines oder Thai Airways. Schon beim Betreten des Flugzeugs ist er benebelt vom Duft der fernöstlichen Economy-Class-Bordverpflegung und betört von den exotischen Uniformen der Besatzung.



Über den Wolken wartet die Freiheit

 

Die Kabinentür schließt sich, das erhabene Fluggerät hebt ab und durchstößt nach wenigen Minuten die geschlossene Wolkendecke des winterlichen Deutschlands. Ein paar Drinks und etliche Stunden später entsteigt der Schwarze Peter in einer anderen Klima- und Kulturzone dem Bauch des Flugzeugs.

 

„[S]o führen uns die hohen Reisegeschwindigkeiten der modernen Fahrzeuge, wie aus einer Stadt in eine andere, von einer Realität in eine andere.“ (Paul Virilio)

 

Wie das Auto stellen Flugzeuge eine große Revolution des Transportwesens dar. Mit vorher nicht gekannter Rasanz sind weit entfernte Kontinente erreichbar. Der französische Philosoph und Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio (1932-2018) spricht vom Projektil-Menschen, der sich mit Hilfe technologischer Prothesen (Flugzeuge, Autos, Züge) fortbewegt. 

 

„Aufbrechen heißt auch, den Bahnsteig den Hafen hinter sich zu lassen und losfahren, heißt darüber hinaus, auf seine Ruhe zu verzichten, sich der Gewalt der Geschwindigkeit hingeben.“ (Paul Virilio)

 

Fast wie bei Raumschiff Enterprise, wo Teleportation („Beam me up, Scotty“) einen unverzüglichen Ortswechsel zur Folge hat. Im richtigen Leben muss unser Philosoph seine langen Gräten unbequeme zehn Stunden in der beengten Holzklasse verstauen. Einmal durfte er mit ausgestreckten Beinen Business Class von Neuseeland nach Hause fliegen… aber das ist eine andere Geschichte.


Warum, fragt er sich, haben Flughäfen für Melancholiker, Suchende und Abenteurer eine derart große Anziehungskraft.

 

 

Mikrokosmos Flughafen

 

Als Tore zur weiten Welt haben Flughäfen eine mythische Qualität. Zudem sind sie in ihrer Betriebsamkeit ein extrem beschleunigter Mikrokosmos und damit ein Abbild der modernen Welt…sagt der Schweizer Philosoph Alain de Botton. Seine Faszination für Flughäfen bescherte ihm 2009 als erster „Writer-in-Residence“ das Privileg, seinen Schreibtisch in der Check-In-Zone des Flughafens Heathrow aufzustellen. Von dort aus analysierte er eine Woche lang wie unter einem Brennglas die bedeutsamen Themen unserer Zeit: Globalisierung, Geschwindigkeit, Umweltzerstörung, Konsumexzesse, Individualitätsverlust, Bürokratie und individuelle Tragödien. Seine Diagnose: Flughäfen bieten

 

„[…] eine Mischung aus Schönheit und Horror, die man als Künstler wunderbar feiern und betrauern kann.“ (De Botton)

 

Nicht nur als Kunstschaffender, sondern auch als Philosoph, denkt sich der Schwarze Peter. Für ihn haben nämlich alle gesellschaftlich relevanten Themen eine philosophische Komponente. Dazu gleich mehr.

 

 

Ikonen der Moderne

 

Apropos Schönheit: Flughäfen sind in ihrer Konzeption auf Effizienz getrimmt. Fast genauso wichtig ist bei großen Flughäfen der architekturästhetische Eindruck. Für den Zeit-Journalisten Berhard Schulz handelt es sich um Kathedralen der Mobilität. Mag sein, aber ein Pritzker-Preis sagt nichts über die philosophische Dimension eines Flughafens aus. De Botton wäre kein Philosoph, wenn er mit Flughäfen nicht eine gedankliche Schwere verbindet.

 

„Flughäfen bringen uns gedanklich immer in größere Nähe zum Tod. Das passiert unbewusst, löst Hemmungen und macht eine neue Liebe leichter möglich.“ (De Botton)

 

Warum der Gedanke an die Sterblichkeit? Weil selbst die geringe Wahrscheinlichkeit eines Absturzes offenporiger macht. Wir spüren unsere Verletzlichkeit und die Abhängigkeit von Faktoren, die zu beeinflussen nicht in unserer Macht stehen. Unserem Philosophen dünkt, dass sich De Botton mit Martin Heideggers Sein-zum-Tode und dem daraus resultierenden sich-vorweg-sein-zum-Tode beschäftigt hat. Nur so kann er sich die extravagante Verknüpfung von Tod, emotionaler Enthemmung und Liebesbereitschaft erklären. 

 

Ein kurzer Exkurs: Für Heidegger ist der Tod nicht nur der absolute Endpunkt, sondern ein formendes Element zu Lebzeiten. Die Einsicht, dass der Tod jederzeit eintreten kann und mit zunehmendem Alter wahrscheinlicher wird, prägt die Haltung dem Leben gegenüber. So lässt das Sein zum Tode die Möglichkeit der Freiheit bewusst werden. ein eigentliches, d. h. selbstbestimmtes Leben zu führen und der Welt des Man zu entkommen. In der auf Gleichförmigkeit und Angepasstheit ausgerichteten Welt des Man („Das macht man nicht!“) ist nämlich wenig Raum für individuelle Entfaltung.

 

Bei Heidegger klingt das ungleich poetischer:

 

„Im Sein zum Tode verhält sich das Dasein zu ihm selbst als einem ausgezeichneten Seinkönnen.“

 

Zurück zum Thema: Nach de Botton (wenn ihn unser Philosoph richtig verstanden hat) steht das in Flughäfen beliebte Duty-Free-Shopping für den Versuch, unsere Traurigkeit über die Kürze und Fragilität des Lebens zu verdrängen.

 

 

Fern- und Heimweh zugleich

 

Der Schwarze Peter kennt die Gefühls-Melange, die sich bei jedem Abflug einstellt: Abschiedsschmerz, Trennungsschmerz (vom überdrüssig gewordenen, aber gewohnten Alltag), Einsamkeit, Vorfreude, Entdeckergeist, Ungewissheit, Suche nach Trost und eine existentielle, d. h. unbestimmte Angst und eine (lustvolle) Schwermut.

 

Wenn wundert, dass bei einer derart brisanten Mischung schwelende private Konflikte ihrer Eruption zustreben. De Botton war während seiner Zeit am Flughafen Heathrow mehrfach Zeuge menschlicher Dramen.

 

„Mir haben viele der Familien leidgetan, die ich am Weg zum Check-In-Schalter beobachtet habe. Sie schleppten nicht nur ihre Koffer und Kinder, sondern auch das schwere Gewicht ihrer Erwartungen.“

 

Diese Erwartungen stehen laut de Botton in keinem Verhältnis zur Wirklichkeit. Denn das wahre Ziel im Leben ist nicht, den Urlaub aufregender, sondern unser Alltagsleben erträglicher zu gestalten.


Was Paul Virilio über das Leben in Städten geschrieben hat, gilt uneingeschränkt und höher verdichtet für Flughäfen:

 

„[Es] ist nicht der Ort ungeheurer physischer, sondern nervöser Aktivitäten.“

 

Die Menschen werden ständig durch Check-in-Schalter,Gepäck- und Zollkontrollen abgebremst. Anschließend werden sie durch Fahrstühle und Rollbänder wieder auf unnatürliche Weise beschleunigt... permanent überwacht und von Verboten begleitet.


Was ist daran reizvoll? Für den Schwarzen Peter ist die Antwort einfach. Das Prozedere vom Betreten des Flughafens bis zum Abflug ist wahrlich lästig und entwürdigend. Aber die Verheißung auf das, was ihn am Ziel erwartet ist so groß, dass selbst ein unwirklicher Ort wie ein Flughafen einen standartisierten Reiz entwickelt.

 

 

  

 

Literatur

De Botton, Alain u. Kospach, Julia: Der Flughafen-Philosoph, in: Tagblatt vom 26.11.2009, https://www.tagblatt.ch/leben/der-flughafen-philosoph-ld.158090 (abgerufen am 21.09.2024).

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 19. Auflage, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006.

Schulz, Bernhard: Kathedralen der Mobilität, in: ZEIT ONLINE vom 15.10.2011, https://www.zeit.de/reisen/2011-10/flughaefen/komplettansicht (abgerufen am 21.09.2024).

Virilio, Paul: Fahren, fahren, fahren…, Merve Verlag, Berlin 1978.

 

 

 

 



 

 

 

 


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