Dieser Hit aus den 80er Jahren sorgt auf jeder Party zuverlässig für mächtig Stimmung.
„Will nicht spar’n, will nicht vernünftig sein. Tank nur das gute Super rein. Ich will fahr’n, ich will fahr’n.“ (Markus, Schlagersänger)
Unserem Philosophen fällt auf, dass das Lied im Radio nicht mehr zu hören ist. Warum? Weil darin etwas verherrlicht wird, das auf der Liste klimaschädlicher Aktivitäten an erster Stelle steht: Auto oder Motorrad fahren. Ihn wundert, dass es auf besagter Party nicht zu einem spontanen Sitzstreik gekommen ist. Vielleicht lag es am Alter und dem Alkoholpegel der illustren Runde.
Apropos Auto: Unser Philosoph war in seiner Jugend das Gegenteil von einem Bücherwurm. Jeden freien Cent hat er in seinen Golf GTi investiert. Zu schön war das Gefühl, frei und mobil zu sein. Fahren um des Fahrens willen.
Er fragt sich, ob das Thema Mobilität schon mal philosophisch beleuchtet wurde. Wenn, dann in Frankreich. Die dortige philosophische Szene ist lebendig, wenn es um die Reflexion popkultureller Phänomene geht.
Er stößt auf Paul Virilio: Philosoph, Journalist, Kunstglaser-Meister, selbsternannter
Architekt - und Begründer der Dromologie. Bitte was? Diesen Begriff hat unser Philosoph noch nie gehört. Er findet heraus, dass damit die „Wissenschaft“ vom Wesen und den Auswirkungen der Geschwindigkeit gemeint ist.
Für Virilio ist das Auto der metallgewordene Traum vom menschlichen Körper in vollkommender Stärke. Aber:
„Das Fahrzeug, das am Straßenrand steht, ist nichts als ein Sofa mit vier oder fünf Plätzen.“
Spannend wird es, wenn sich das Fahrzeug in Bewegung setzt, wenn es seine Passagiere mitnimmt zum Endpunkt der Reise - ans Ziel. Dabei geht die gesamte Fuhre von einem Bewegungszustand zum nächsten über. Wie einzelne Bilder, die zusammen eine Filmsequenz ergeben. Spontan denkt unser Philosoph an Zenons Pfeil-Paradoxon.
Was bei niedrigen Geschwindigkeiten deutlich ist, wird bei hohem Tempo verschwommener.
„Zwischen zwanzig und zweihundert Stundenkilometern ist die Deutlichkeit des vorbeihuschenden [sic] Bildes radikal verschieden.“
„Die Schnelligkeit ist unerhört, die Blumen am Weg sind keine Blumen mehr, sondern Flecken oder eher noch rote und weiße Striche.“
Aus diesem Grund fährt unser Philosoph niemals schneller als 120 Stundenkilometer. Beim seitlichen Blick aus dem Autofenster wird ihm nämlich schummrig. Ähnlich ergeht es ihm mit Virilios kryptischen Sätzen:
„Aufbrechen heißt auch, sich fortbewegen, den Bahnsteig, den Hafen hinter sich lassen und losfahren, heißt darüber hinaus, auf seine Ruhe zu verzichten, sich der Gewalt der Geschwindigkeit hingeben […].“
Wenn unser Philosoph richtig verstanden hat, ist Geschwindigkeit die Kraft, die Menschen jäh von Orten trennt. Zugleich ist jeder Aufbruch ein Abbruch unserer Kontakte. Immer lässt man etwas oder jemand zurück. Statt zu bleiben, fährt man woanders hin. An die Stelle der Sesshaftigkeit im Raum tritt die Sesshaftigkeit in der Zeit.
Virilio fragt: „Wo sind wir, wenn wir reisen?“. Hmm… da, wo das Navi gerade anzeigt? Zu banal - zu wenig philosophisch.
„Die stattfindende Fahrt ist zukunftsgesteuert, die Vergangenheit wird von der beschleunigten Irrfahrt überholt, die Bezugspunkte liegen im wesentlichen in der Zukunft.“
Die hohen Reisegeschwindigkeiten der modernen Fahrzeuge führen wie aus einer Stadt in eine andere, von einer Realität in die andere.
Unser Philosoph glaubt zu verstehen (zumindest ansatzweise). Aber: Noch sucht er in Virilios Werk nach dem einen originellen philosophischen Gedanken. Ihm dämmert, dass er das was er sucht vor Augen hat:
„Geschwindigkeit ruft Leere hervor, Leere ihrerseits Geschwindigkeit…“
„So kurz sie auch sein mag, die Fahrt von einem Ziel zum anderen, von einer Stadt zur anderen wird zum bloßen Unwohlsein des Wartens auf die Ankunft […].“
Die Beschleunigung hat dazu geführt, dass weit entfernte Orte nahe gerückt sind. Das gegenwärtige schnelle Reisen ist laut Virilio nicht viel mehr als das Warten auf die Ankunft.
„Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr warten müssen um anzukommen…?“
Vielleicht - mutmaßt unser Philosoph - starren wir dann ein paar Stunden länger auf das Smartphone.
Literatur
Breuer, Stefan: Der Nihilismus der Geschwindigkeit. Zum Werk Paul Virilios, in Leviathan Vol. 16, Nr. 3 (1988), Seite 309-330, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 1988.
Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung/Geschwindigkeit/Beschleunigung, Carl Hanser Verlag, München 1989.
Virilio, Paul: Fahren, fahren, fahren..., Merve Verlag, Berlin 1978.
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