Nackt kam er auf die Welt, der Schwarze Peter. Neben seiner Körperlichkeit hatte er bei der Geburt die übliche Grundausstattung: seine Menschenwürde. Die hat übrigens jeder, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und religiöser Zugehörigkeit. Keine noch so schwere geistige oder körperliche Einschränkung kann sie außer Kraft setzen.
Dem Grundgedanken nach unantastbar, unverlierbar, unveräußerlich und un-bedingt, zählt die Menschenwürde zu den größten Kulturerrungenschaften. Sie ist im deutschen Grundgesetz als Artikel 1 verankert und damit das Fundament unseres Rechtssystems.
Würde - ein nebulöser Begriff
Mit der Würde geht es vielen wie einst Augustinus von Hippo (354-430 n. Chr.) mit dem Begriff Zeit. Ernüchtert konstatierte er:
„Wenn niemand mich danach [nach der Zeit, Anm. d. Verf.] fragt, weiß ich es; wenn ich es jemand auf die Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“
Oder mit Peter Bieris Worten im Hinblick auf die Würde:
„Wenn wir einen Schritt hinter die sprachlichen Gewohnheiten zurücktreten und uns auf den Begriff konzentrieren, stellen wir verwirrt fest, dass uns gar nicht klar war, was wir da die ganze Zeit gesagt haben.“
Dieses Phänomen ist dem Schwarzen Peter wohlbekannt. Auch ihm erscheint der Begriff Würde bei näherer Betrachtung fremd und rätselhaft. Er weiß aber, dass im alltäglichen Sprachgebrauch zwei fundamental unterschiedliche Auslegungen existieren:
1.) Als Amtswürde (äußerliche Würde), die eine Begleiterscheinung einer hohen funktionalen und sozialen Stellung in einer kirchlichen, politischen oder militärischen Hierarchie darstellt. Sie ist zugleich eine Bürde, denn mit ihr gehen moralische Erwartungen und praktische Pflichten einher.
Der Amtsträger muss sicher Würde als würdig erweisen. Sie ist bedingt, zeitlich befristet und mit dem Amt verbunden. Allerdings kann sie weit über die Amtszeit hinauswirken, wie es bei großen ehemaligen Staatsmännern oder -frauen bisweilen der Fall ist.
2.) Als Menschenwürde (innerliche Würde), bei der jedes Individuum ein Zweck an sich ist. Diese Form der Würde muss weder verdient noch erarbeitet werden. Jeder Mensch hat sie ohne eigenes Zutun. Das hat Auswirkungen auf unser Selbstverständnis als Individuum und Bürger eines Staates. Im Zentrum steht nämlich nicht die Funktionalität oder ökonomische Verwertbarkeit des Menschen, sondern dessen universaler absoluter Wert (= Würde).
Immanuel Kant (1724-1804) ist von der Selbstzweckhaftigkeit des Individuums überzeugt. Diese ethisch reflektierte Annahme zeigt sich pointiert in der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs:
„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
Kant hat damit ein Moralprinzip und Gesetz der Freiheit formuliert. Ohne die Freiheit (i. e. autonomer Wille), die jedes vernünftige Wesen besitzt, ist keine Moralität vorstellbar. Für Friedrich Schiller (1759-1805) ist die Einhaltung der Würde des Menschen zugleich das Zeichen einer erhabenen, auf Freiheit basierenden, Gesinnung.
Alles hat einen Preis – oder?
Die Würde verleiht dem Menschen einen unvergleichlichen Wert, denn:
„Sie unterscheidet ihn von allem, was nur einen Preis, also einen relativen Wert hat.“ (Andreas Trampota)
Wenn vom Wert eines Menschen die Rede ist, gelten folgende Gleichungen:
Relativer Wert = Preis vs. absoluter Wert = Würde
Daraus lassen sich drei Formen der Werthaftigkeit ableiten:
1.) Marktpreis
2.) Affektionspreis (Preis für Bedürfnisse, die dem reinen Wohlgefallen dienen)
3.) Innerer Wert (Würde, Zweck-an-sich-selbst)
Der Wert von 1.) und 2.) ist relativ. Er definiert sich über die daraus resultierenden Wirkungen, d. h. den Vorteil und Nutzen, der sich daraus ergibt.
Kurzum: Alles, was einen Preis hat, kann durch etwas anderes als dessen Äquivalent ersetzt werden. Alles, was über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent kennt, hat eine Würde.
Das Wesen der Würde
Für den Schweizer Philosophen Peter Bieri (1944-2023) ist die Würde eine bestimmte Art und Weise zu leben… ein Muster des Denkens, Erlebens und Tuns. Die Erscheinungsformen von Würde-Erfahrungen sind vielfältig. Bieri möchte aber zum Wesenskern der Würde vordringen.
Bei seinen Untersuchungen unterscheidet er drei Art und Weisen der absoluten Würde:
1.) Wie behandeln mich die anderen?
2.) Wie stehe ich zu den anderen?
3.) Wie stehe ich zu mir selbst?
Diese Perspektiven fließen im Begriff der Würde zusammen. Diese Vielschichtigkeit verleiht ihm eine besondere Dichte.
„Die drei Dimensionen lassen sich gedanklich klar trennen. In der Erfahrung gewahrter, beschädigter oder verspielter Würde greifen sie ineinander.“ (Bieri)
Mit der Würde ist es ähnlich wie mit der Gesundheit, deren Wert meist erst durch deren Verlust bewusst wird. Laut Peter Bieri erleben wir den Verlust der Würde als ein Unglück im Sinne eines Makels, an den wir uns nicht gewöhnen und innerlich nicht auf Distanz halten können.
„Der Verlust wirft einen Schatten über das Leben, der es so verdunkelt, dass wir es gar nicht mehr leben, sondern nur noch aushalten können.“ (Bieri)
Unser Leben ist zu jedem Zeitpunkt von innen und außen gefährdet. Die Sorge um die Würde ist für Bieri der Versuch, diese körperliche oder seelische Gefährdung in Schach zu halten und unser Leben selbstbewusst zu bestehen.
„Die Lebensform der Würde ist nicht irgendeine Lebensform, sondern die existentielle Antwort auf die existentielle Erfahrung der Gefährdung.“ (Bieri)
Die beste Version meiner Selbst
Die Art, wie ich zu mir selbst stehe, welcher Mensch ich sein will und ob es mir gelungenen ist, die beste Version meiner Selbst zu sein, prägt die Einstellung anderen gegenüber. Es handelt sich nach Kant um eine Pflicht anderen und sich selbst gegenüber. Der Pflichtbegriff ist so stark, dass auch derjenige, der dieser Pflicht nicht nachkommt, seine Würde nicht verliert. Laut Norbert Brieskorn lebt der Mensch in diesem Fall nicht der Pflicht gemäß.
Auch nicht der Vernunft gemäß, wie Karl Jaspers (1883-1969) bemerkt:
„Würde liegt in der Zuverlässigkeit des Menschen als Vernunftwesen, in der Festigkeit seines Wissens und Meinens“
Literatur
Bieri, Peter: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, 2. Auflage, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2015.
Brieskorn, Norbert: in Brugger, Walter u. Schöndorf, Harald: Philosophisches Wörterbuch, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau, 2010.
Jaspers, Karl: Philosophie II. Existenzerhellung, 4. Auflage, Springer Verlag, Berlin, 1973.
Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Reclam, Stuttgart, 1986.
Trampota. Andreas, Allgemeine Ethik, Vorlesungsskript, WS 2013/14.
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