Mit jeder neuen Corona-Regel wächst die Sehnsucht nach Ruhe und Beständigkeit. In solch turbulenten Zeiten sucht der Mensch Trost und Unterschlupf. Beides findet er unter dem wohligen Mantel der Philosophie - in diesem Fall bei Friedrich Wilhelm Nietzsche.
Nietzsche (1844-1900) hatte weiß Gott kein leichtes Leben und darf als Fachmann für die Wechselfälle des Lebens gelten. Aus diesem Grund beschäftigen wir uns mit dem schwermütigen Deutschen und nicht mit den entspannteren und populäreren Stoikern, die für jedes Lebensproblem eine leicht verdauliche Medizin im Schrank haben.
Außerdem stammte Nietzsche aus unserem Kulturkreis und unserer Klimazone (die allein schon Depressionen auszulösen vermag). Im Vergleich zu den leichtlebigen Griechen steht uns das wolkenverhangene Naturell Nietzsches näher.
Wer nun Einspruch einlegt, weil Nietzsche zeitlebens unglücklich gewesen ist und deshalb als Trostspender ausscheidet, dem sei gesagt: Der Wegweiser geht niemals den Weg. Sein scharfer Geist war ihm selbst kaum von therapeutischem Nutzen. Aber er hat einen immensen Fundus an Lebensweisheiten hinterlassen. Obwohl diese oft aus dem Zusammenhang gerissen werden, lassen sich damit aktuelle Probleme klarer benennen und in einen größeren Zusammenhang stellen.
Nach Professor Elmar Schenkel kommt Nietzsche „immer dann ins Spiel, wenn Menschen sich in ihrer Individualität zu realisieren versuchen“. Das betrifft auch das Verhältnis zum Kollektiv und den staatlichen Instanzen. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich Nietzsches Relevanz für das heutige Denken. So hat der Umgang mit der Corona-Krise gezeigt, dass Teile der Gesellschaft in einen Gefühlszustand versetzt werden können, in dem sie auf vielfältige Weise steuerbar sind.
Hat die Philosophie im Allgemeinen und die von Nietzsche im Speziellen, einen Nutzen, um ideologischen Einflüssen entgegenzuwirken? Antworten wir auf diese Frage mit Ludwig Wittgenstein (1889-1951). Für ihn ist die Philosophie ein Kampf gegen die Verhexungen des Verstandes durch die Mittel der Sprache ist. Es geht darum, einen klaren Kopf zu behalten und bei Verstand zu bleiben. Nietzsche liefert auf die großen Fragen viele hilfreiche kleine Antworten.
Die folgenden 10 Gedanken-Fragmente haben wir dem rundum empfehlenswerten Lexikon der Nietzsche Zitate entnommen:
1. Ambivalenz
„[E]s ist Schwärmerei zu glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde.“ (MEN I, 224)
2. Abgrund
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (JEN 146)
3. Bürger
„Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist.“ (ZAR I, Götzen 4,63)
4. Gerechtigkeitstrieb
„Die schrecklichsten Leiden sind […] aus dem Gerechtigkeitstrieb ohne Urteilskraft über die Menschen gekommen.“ (HIS 6, 1.287)
5. Gesetze
„Auch törichte Gesetze geben Freiheit und Ruhe des Gemüts, sofern sich nur viele ihnen unterworfen haben.“ (MEN II, Mei 311)
6. Ideologieverdacht
„Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind losmarschiert.“ (MOR 557)
7. Machtgefühl
„Die erste Wirkung des Glücks ist das Gefühl der Macht: Diese will sich äußern.“ (MOR 356)
8. Moral
„Es gibt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurteil als dies: dass man wisse, was eigentlich das Moralische ausmache.“ (MOR 132, 3,124)
9. Parteien
„Starke Wasser reißen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.“ (MEN I, 541)
10. Regieren
„Die einen regieren aus Lust am Regieren; die anderen, um nicht regiert zu werden.“ (MOR 181)
Bonus-Zitat: Verzeihen
„Es ist weit angenehmer, zu beleidigen und später um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Verzeihung zu gewähren.“ (MEN I, 348)
Siglen
HIS Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
JEN Jenseits von Gut und Böse
MEN Menschliches, Allzumenschliches
MOR Morgenröte
ZAR Also sprach Zarathustra
Literatur
Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Kritische Studienausgabe, 15 Bände, Deutscher Taschenbuchverlag, de Gruyter, München 1999.
Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Das Lexikon der Nietzsche Zitate, Deutscher Taschenbuchverlag, München 2001.
Schenkel, Elmar: Nietzsche - Ein Meer aus Widersprüchen, Interview von Friederike Invernizzi 14.10.2019, in: https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/ein-meer-aus-widerspruechen-2194/, (abgerufen am 07.05.2021).
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Werksausgabe Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
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