Willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag‘ ich Dir den Schädel ein. Erfreulicherweise leben wir in einer gesitteteren Welt. Aber die Zahl derer, die abweichende Meinungen tolerieren, schwindet.
Andersdenkende werden zunehmend auf existenzbedrohliche Weise ins Abseits gedrängt. Sie sind nicht länger ideologische Gegner, die sich in Debatten argumentativ behaupten müssen, sondern Feinde, die es zu eliminieren gilt.
Wir sparen uns eine Auflistung aktueller Beispiele und widmen uns dem litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995), der sich aufgrund leidvoller Erfahrungen mit verschiedenen Formen des Totalitarismus beschäftigt hat. Eines vorweg: Die Lager am linken und rechten Rand verbindet mehr, als ihnen lieb und bewusst ist.
Wir orientieren uns an Wolfgang Krewanis Vortrag „Emmanuel Levinas. Denker des Zwischen“ aus dem Jahr 2000, der bis heute (leider) nicht an Aktualität eingebüßt hat.
Das jüdische Problem
Zwei von Levinas‘ zentralen philosophischen Themen sind zeitlose Klassiker:
1.) Die Sonderstellung jüdischen Lebens in der Gesellschaft
2.) Das Wiedererstarken totalitaristischen Gedankenguts
Die aggressiven Anti-Israel-Demonstrationen an amerikanischen und europäischen Universitäten offenbaren einen unheilvollen Zusammenhang. Sie zeigen, dass Bildung nicht zwingend gegen den Zeitgeist immunisiert:
„Die Unmoral der in weichen Fächern [Geisteswissenschaften, Anm. d. Verf.] Bestgebildeten trifft heute, wie seit je, Juden so sehr wie Nichtjuden, aber Juden ganz besonders.“ (Michael Wolffsohn)
Auch deshalb dreht sich Levinas‘ Philosophie um die Frage nach der jüdischen Identität,
d. h. nach der Stellung der Juden im Verhältnis zu anderen Kulturen, insbesondere zur abendländischen.
Laut Wolfgang Krewani, einem profunden Kenner der Levinas‘schen Philosophie, sehen sich die Juden als auserwähltes Volk und beanspruchen eine Sonderstellung in der internationalen Gemeinschaft. Als Reaktion darauf, haben nichtjüdische Völker die Juden über Jahrhunderte auf Abstand gehalten und gettoisiert.
Erst die Aufklärung (ca. 1680-1800) brachte ein akzeptables Maß an Freiheiten. Als vernunftbasierte kulturelle Bewegung geht sie von der Verstehbarkeit der Realität aus und versucht die Dinge auf den Begriff zu bringen.
„Der Begriff von etwas ist jeweils das Allgemeine unter Absehung vom Besonderen und Individuellen.“ (Krewani)
Deshalb sieht die Aufklärung im Juden zuvorderst den Menschen, und nicht das, was ihn religiös und kulturell unterscheidet. Von dieser Warte aus waren Juden nicht länger Menschen zweiter Klasse, sondern Bürger mit gleichen Rechten. Aber bekamen sie die gleiche Anerkennung und Wertschätzung?
Der Preis: Entweder-oder
Die allgemeine Anerkennung erwarb der Jude, Aufklärung hin oder her, indem er allgemeiner Weltbürger wurde.
„Nur indem er als Jude verschwindet, wird er ein guter Bürger. Wer dieses Opfer nicht bringen will, gerät zwischen die Fronten.“ (Alain Finkielkraut)
Damit bleibt das jüdische Problem in modifizierter Form bestehen: als Jude ist er kein Weltbürger, als Weltbürger kein Jude. Indem er beides sein will, ist er keines von beiden. Der Jude wird „zwischen dem Universalismus der Aufklärung und dem Partikularismus seiner besonderen Tradition und Lebensform zerrieben“ (Krewani). Welcher Ausweg bietet sich an?
„Sei Jude zuhause und [weltbürgerlicher, Anm. d. Verf.] Mensch draußen.
Eine unzumutbare „Lösung“, denn der Mensch sucht die Vertrautheit und Traditionen seiner Heimat. Wolfgang Krewani spricht vom „Identität stiftende[n] Wissen um die Herkunft“.
Der Totalitarismus der Aufklärung
Wolfgang Krewani erinnert an den Terror der französischen Revolution im Namen der Vernunft, die alles Abweichende ausschließt. Deren Versprechen, die Menschenwürde und das Freiheitsstreben (Liberté, Égalité, Fraternité) jedes einzelnen zu achten, gipfelte in der Vernichtung des Andersartigen, der „Ausschaltung dessen, was sich widersetzt“.
„Die philosophische Vernunft hat Europa in der Regel nicht gehindert, das, was anders ist, sich dienstbar zu machen und im Übrigen zu unterdrücken oder gar zu vernichten.“ (Krewani)
Krewanis sieht in der Shoah, der Massenvernichtung der Juden, den Höhepunkt und die Vollendung einer Gewalt, die der Vernunft und dem begrifflichen Denken immanent ist. In der Tradition von Levinas stehend, folgert er:
„In [der Shoah] zeigt sich der totalitäre Geist der Aufklärung und damit das rein negative Verhalten gegenüber dem, was anders ist.“
So gesehen ist der Universalismus der Aufklärung in Wahrheit eine Tyrannei… und damit das Gegenteil dessen, was er zu sein vorgibt.
Brüder und Schwestern im Geiste
Eine unbequeme Erkenntnis für jene Akteure, die das Attribut „totalitär“ der jeweils anderen Seite zuschreiben… und geflissentlich übersehen, dass sie als geschlossene Systeme mehr verbindet als trennt. Tatsächlich teilt die Aufklärung mit dem Partikularismus (der sich auf Traditionen und Gebräuche zurückzieht) das negative Verhalten gegenüber dem, was anders ist.
„Alle partikularen Kulturen, also solche, die sich gegen anderes abkapseln und abschließen, kennen Freundschaft nur nach innen, aber Feindschaft nach außen.“ (Krewani )
Insofern ist partikularen Kulturen das Totalitäre in die DNA geschrieben. Das gilt –weniger offensichtlich – ebenso für den beim Universalismus.
Während sich der Partikularismus gegen anderes abgrenzt, versucht der Universalismus alles Seiende zu integrieren… wenn nötig mit äußerster Gewalt.
Die Versöhnung des Gegensätzlichen
Levinas sucht nach einer Möglichkeit, beide Strömungen miteinander zu versöhnen oder nebeneinander bestehen zu lassen. Was bedeutet das im Hinblick auf das jüdische Problem?
„Gibt es die Möglichkeit, nicht nur entweder Jude oder Bürger zu sein, sondern beides ineins?“ (Krewani)
Levinas ist von dem Wunsch beseelt, in einer aufgeklärten und rationalen Welt zu leben, ohne seine jüdische Identität verleugnen zu müssen. Sein Gegner ist weder der Partikularismus noch der Universalismus, sondern der daraus resultierende Totalitarismus. Entweder Zugehörigkeit mit Leib und Seele oder Nichtzugehörigkeit mit totalem Ausschluss. Denn der Totalitarismus kennt keine Mitte, kein Zwischen, kein Sowohl-als-auch. Trotzdem sucht Levinas unverdrossen nach einem Weg jenseits von Herrschaft oder Knechtschaft. Er vermutet ihn in der Figur des Dritten.
Der erlösende Dritte
Laut Levinas ist das Individuum nicht nur für den Nächsten, sondern auch für den Dritten verantwortlich. Was bedeutet das? Wegen seiner begrenzten Ressourcen muss das Subjekt entscheiden, wer der Bedürftigere ist… der Nächste oder der Dritte.
„Welcher hat Vorrang vor dem anderen?“ (Levinas)
Der Nächste (z. B. der Ehepartner) kann so zum Dritten werden und der Dritte zum Nächsten. Levinas relativiert damit die privilegierte Stellung des Nächsten. Die Folge:
„In keiner Frage mehr kann sich das Subjekt auf den Appell des unmittelbar Nächsten verlassen.“ (Krewani).
Damit tritt das Subjekt aus der „Gefangenschaft“ des anderen (z. B. verwandtschaftliche Bindung) heraus und wird verantwortlich für alle. Er muss nach eigenem Ermessen entscheiden. In dieser Hinsicht stört der Dritte, denn er erweitert den Verantwortungshorizont des Subjekts.
„Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen.“ (Levinas)
Konsequent befolgt, wird damit dem Partikularismus und dem Universalismus der totalitäre Nährboden entzogen. Die aktuell stattfindenden Demonstrationen an den Universitäten wären reines Mitgefühl, ohne ins Antisemitische zu kippen.
Literatur
Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 3. Auflage, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau 2011.
Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, 6. Auflage, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau 2012.
Wolffsohn, Michael: Gebildete Barbaren, in NZZ Online vom 17.05.2024: https://www.nzz.ch/feuilleton/gebildete-barbaren-wie-sich-westliche-wissenschaft-und-kultur-abschaffen-ld.1830150 (abgerufen am 17.05.2024).
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