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INTERVIEW - Was für ein Zufall!

Aktualisiert: 17. März 2023

Ist es Zufall, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf diesem Blog gelandet sind? Handelt es sich um ein naheliegendes, vielleicht sogar zwingendes Resultat Ihrer vorangegangenen Aktivitäten? So viel vorweg: Die Art Zufall, um die es dem Forscher Dr. Bernhard Weßling geht, hat wenig mit dem Zufall z. B. eines Lottogewinns zu tun.


Wie zufällig ist der Zufall - Ein Interview


Mueller-denkt: Herr Dr. Weßling, Sie sind promovierter Chemiker, erfolgreicher Unternehmer und darüber hinaus philosophisch interessiert. Ihr neues Buch Was für ein Zufall! ist in erster Linie ein naturwissenschaftlich fundiertes Sachbuch und befasst sich mit Unvorhersehbarkeit, Komplexität und dem Wesen der Zeit. Ihre Erkenntnisse haben auch eine philosophische Dimension. Wenn Sie einverstanden sind, richten wir den Fokus darauf.


Dr. Weßling: Sehr gerne.




Ist es Zufall, dass wir uns begegnet sind und dieses Interview führen, oder – wie Deterministen behaupten würden – das zwingende Resultat einer langen Kette kausaler Ereignisse?


Ich bin überzeugt, dass es sich aufgrund Ihrer Beschäftigung mit Philosophie, Ihren Kontakten zu Axel Stöcker (die-grossen-fragen.com) und Dirk Boucsein (philosophies.de), mit denen ich auch diskutiert habe, um eine wahrscheinliche, wenngleich nicht zwingende Folge Ihrer und meiner Aktivitäten handelt. Nach meiner Einschätzung ist unsere Begegnung deshalb kein Zufall. So wie man Leute, die jeden Freitag zur gleichen Zeit zum Gemüsemarkt gehen, dort treffen kann… auch dann, wenn man selbst eher selten hingeht.


Ein Zufall wäre es, wenn ich wegen einer Autopanne meine Urlaubsfahrt in Italien unterbrechen und während der Wartezeit auf einem Markt einen ehemaligen Klassenkameraden treffen würde, zu dem ich 50 Jahre keinen Kontakt hatte.



Können Sie uns sagen, was der Zufall seinem Wesen nach ist, wo er herkommt und warum Sie ihn für den Normalfall halten.


Das, worüber ich ein ganzes Buch geschrieben habe, in einem Satz zu bündeln ist schwer. Verkürzt ausgedrückt, kommt es immer dann zu einem Zufall, wenn sich mindestens zwei voneinander vollkommen unabhängige Kausalketten unvorhersehbar zeitlich und örtlich überschneiden.


Diese Zufälle sind keinesfalls die Ausnahme: Im Gegenteil, sie sind normal, weil in Nicht-Gleichgewichtssystemen, aus denen unsere Welt besteht, überwiegend nicht-lineare Prozesse ablaufen. Sie erzeugen ständig das Zusammentreffen solcher Kausalketten – und damit Zufälle.




Was können wir uns unter einem nicht-linearen Prozess vorstellen?


In meinem Beispiel vom zufälligen Treffen mit dem ehemaligen Schulkameraden überschneiden sich zwei voneinander völlig unabhängige Kausalketten auf einem Markt in Italien. Die Voraussetzungen für diese unwahrscheinliche Begegnung: Meine unterbrochene Urlaubsreise wegen einer Autopanne.


Bis zu diesem Zeitpunkt fährt das Auto mehr oder weniger linear, bis es wegen eines Motorschadens stehen bleibt. Dabei handelt es sich um ein nicht-lineares Phänomen, weil plötzlich aus einer kontinuierlichen Fahrt ein STOP wird. Die zweite Kausalkette mit der Entscheidung meines Schulkollegen, ausnahmsweise auf einer Geschäftsreise diesen Markt zu besuchen, führt schließlich zur unvorhersehbaren Begegnung.




Der Physiker Walter Hehl definiert Zufall als eine Kausalkette, deren Ursprung nicht bestimmbar ist.


Diese Definition teile ich nicht. Es ist prinzipiell möglich, die sich treffenden Kausalketten zurückzuverfolgen und deren Ursachen zu bestimmen. Allerdings ist es aufwändig und in den meisten Fällen kaum lohnenswert.




Zufall ist… Zufall, oder etwa nicht? In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen essenziellem und wahrscheinlichkeitsmathematischem Zufall. Was können wir uns darunter vorstellen?


Dem Nobelpreisträger Jacques Monod (1910-1976, Anm. d. Red.) folgend, handelt es sich bei der Art von Zufällen, die ich oben definierte, um „essenzielle Zufälle“. Ein Zusammentreffen wie das mit meinem Klassenkameraden ist absolut unvorhersehbar, mit keiner Wahrscheinlichkeitsrechnung beschreibbar und die Wahrscheinlichkeit eines solchen Treffens nahe Null. Dennoch kann es geschehen, weil es möglich ist.


Anders beim Roulette oder Würfelspiel, wo Wahrscheinlichkeitsrechnungen zuverlässige Aussagen liefern. Wir wissen, dass beim Würfeln die „4“ mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel fällt. Deshalb handelt es sich hier nicht um essenzielle, sondern wahrscheinlichkeitsmathematische Zufälle.




Mit Hilfe der Mathematik können Eintrittswahrscheinlichkeiten (z. B. durch einen Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen) berechnet werden. Diese Art Zufall ist aber nicht Gegenstand Ihrer Untersuchungen. Warum?


Irrtum, das interessiert mich durchaus, denn ein Flugzeugabsturz ist schon eher ein essenzieller Zufall, denn die meisten Unglücke sind nicht vorhersehbar. Weder wann, wo noch warum. Auch nicht, welches Flugzeug von welcher Fluglinie mit welchen Opferzahlen betroffen sein wird. Dass Versicherungen mit mathematischen Wahrscheinlichkeiten ihre Risikoprämien berechnen, ändert nichts daran, dass jeder einzelne Unfall ein essenzieller Zufall ist – nicht zuletzt für die Betroffenen.




Richten wir den Blick auf die philosophisch relevanten Implikationen. Das Phänomen Zufall wird von der Philosophie stiefmütterlich behandelt. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie häufig der Begriff Zufall in der Alltagssprache verwendet wird.


Ich glaube nicht, dass der Zufall stiefmütterlich behandelt wurde. Ich denke eher, dass er für Philosophen als ausreichend tief durchdacht angesehen wird. So als könne man dem, was bisher geschrieben wurde, nichts mehr hinzufügen. Es gibt ja zahlreiche Definitionen und Traktate über den Zufall.


Mir fiel aber mal „zufällig“ auf, dass sowohl Philosophen als auch Physiker (bzw. umgekehrt, Physiker wohl zuerst) inzwischen behaupten, dass der Zufall aus dem zufälligen, unscharfen und unbestimmbaren Verhalten der Quanten resultiert. Damit geben sich fast alle zufrieden, obwohl diese Ansicht weder theoretisch noch experimentell begründet ist. Das hat zu einer selbstgewissen Zufriedenheit geführt, erklärt aber nichts und ist meines Erachtens falsch.




Die, in der Wissenschaft weit verbreitete Annahme, den Zufall auf das eigenartige Verhalten der Elementarteilchen zurückzuführen, weisen Sie zurück. Stattdessen erklären Sie den Zufall mit den Gesetzmäßigkeiten der Thermodynamik. Was können wir uns darunter vorstellen?


Dass die Elementarteilchen für den Zufall verantwortlich sein sollen, ist wegen des Phänomens der Dekohärenz nicht möglich (Details im Buch). Die Thermodynamik, genauer die Nicht-Gleichgewichtsthermodynamik, liefert aber eine hinreichende Erklärung durch die nicht-linearen Verhaltensweisen und Gesetzmäßigkeiten der Nicht-Gleichgewichts-Systeme (siehe oben). Das erkläre ich im Buch ausführlich auf sehr einfach verständliche Weise. Ich verspreche, Sie werden danach alle das – für viele rätselhafte – Phänomen „Entropie“ verstehen.




In Ihrem Buch haben Verkehrsstaus, komplexe Galaxienhaufen und die Evolution eine Gemeinsamkeit? Das erschließt sich nicht auf Anhieb. Helfen Sie uns auf die Sprünge.


Die Gemeinsamkeit solcher Systeme besteht darin, dass sie jeweils hoch strukturiert sind. Es handelt sich um komplexe Systeme bzw. Prozesse. Sie gehorchen Gesetzmäßigkeiten, die nicht allein auf die Eigenschaften der jeweiligen Bestandteile des Systems zurückgeführt werden können.


Ein Beispiel: Sie können das Entstehen von Verkehrstaus nicht damit erklären, dass Sie alles über den Motor, die Reifen eines oder aller am Stau beteiligten Autos wissen und zusätzlich alle Fahrer kennen und psychologisch analysiert haben. Nein, erst durch die Wechselwirkung aller am Stau beteiligten Elemente inklusive der Straße und des Wetters kann (muss aber nicht!) ein Stau entstehen. Das ist ein typisches Beispiel für nicht-lineares Verhalten und damit für Zufallserscheinungen. Man nennt so etwas emergente Eigenschaften bzw. emergente Gesetzmäßigkeiten. Im Verlauf solcher Prozesse entstehen Zufälle, und zwar ständig.



Im 5. Kapitel Ihres Buches betonen Sie, dass die Wissenschaft auf sträfliche Weise die Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik vernachlässigt, die für das Verständnis unserer Welt ebenso wichtig ist, wie die Relativitätstheorie, Quantenphysik, Evolutionstheorie oder Kosmologie. Eigentlich sollte diese Theorie durch die Vergabe des Nobelpreises 1977 an Ilya Prigogine etabliert sein.


Korrekt. Das ist aber merkwürdigerweise nicht geschehen. Nicht nur die Wissenschaft vernachlässigt das Verständnis der Nicht-Gleichgewichts-Eigenschaften unserer Welt, sondern die gesamte Gesellschaft. Schauen Sie mal ins Grundgesetz: Dort wird gefordert, dass für den Erhalt des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ Sorge getragen werden muss. Das ist so, als würde das Grundgesetz fordern, die Bundesregierung müsse die Schwerkraft abschaffen. Denn es kann aus naturgesetzlichen Gründen (auch) in der Wirtschaft kein „Gleichgewicht“ geben. Warum? Weil es sich ausnahmslos um dynamische Nicht-Gleichgewichts-Systeme handelt.


Es gibt aber bisher – abgesehen von meinem – leider kein einziges Buch, das auf allgemeinverständliche Art und Weise in die faszinierende Welt der Thermodynamik einführt, die Zusammenhänge erklärt und beispielsweise die Entropie verständlich macht. Wenn ich mich nicht irre, ist mein Buch sogar das weltweit erste dieser Art.




Viele Menschen wünschen sich eine Rückkehr zu einem Gleichgewichtszustand, von dem sie sich Kontinuität, Ruhe und Sicherheit versprechen. Sie behaupten, die Welt ist nicht im Gleichgewicht. Kann sie es überhaupt sein?


Nein, weil sich alles im Großen und Kleinen überall auf der Welt und im Kosmos ändert, und das seit 14 Milliarden Jahren. Die Welt kann prinzipiell nicht im Gleichgewicht sein. Eine Welt im Gleichgewicht wäre eine Welt des Stillstands. Aus thermodynamischer Sicht wäre sie eine tote Welt.




Ist demnach jeglicher „Gleichgewichtszustand“ nur eine Momentaufnahme in einer sich stetig verändernden Welt?


Das, was als Gleichgewicht empfunden wird, ist in Wahrheit lediglich ein relativ stabiler Zustand über einen überblickbaren Zeitraum, dessen ständige Veränderungen oberflächlich kaum wahrnehmbar sind. Ein echtes Gleichgewicht kann es nicht geben, weil die Welt ein dynamisches Nicht-Gleichgewichts-System mit unzähligen Teilsystemen ist, die sich ständig verändern.




Die Sehnsucht nach dem Gleichgewichtszustand gleicht einer Sehnsucht nach einem paradiesischen Urzustand, wie ihn Jean-Jacques Rousseau postuliert hat: Der Mensch im Einklang mit der Natur.


Die Natur ist nicht im Gleichgewicht. Im Einklang mit der Natur sein zu wollen, heißt nicht unbedingt „im Gleichgewicht“. Als Segler, der ich nicht bin, kann man im Einklang mit Wind und Wellen segeln, aber beide Naturerscheinungen gäbe es im Gleichgewicht nicht. Deshalb freut sich der Segler über die Dynamik und das Nicht-Gleichgewicht des Wetters auf See. Genauso gäbe es im Gleichgewichtszustand keine Natur, weil nichts werden (wachsen) und nichts vergehen (kompostiert) würde.




Trotzdem: Die Verklärung eines Urzustandes scheint der Vorstellung vieler Menschen von einem gelungenen Leben zu entsprechen.


Ich möchte anderen keine Vorschriften machen oder Empfehlungen geben, wie sie ihr Leben gestalten sollen, um es als gelungen oder geglückt empfinden zu können. Ich liebe Veränderungen, weil sie interessant sind und Möglichkeiten für neue Erlebnisse, Erkenntnisse und Entwicklungen eröffnen. Aus diesem Grund habe ich keine Sehnsucht nach einem weit zurückliegenden Zustand, sei er auch noch so „paradiesisch".


Der Wunsch vieler Menschen nach Gleichgewicht, die Sehnsucht nach etwas, das rückblickend stabil und behütend schien, entsteht meines Erachtens aus einer weit verbreiteten Furcht vor Veränderungen aller Art. Viele machen Urlaub am immer gleichen Ort oder buchen eine Pauschalreise, um wenig organisieren zu müssen. Es soll möglichst wenig schiefgehen. Darin zeigt sich auch die Furcht vor Instabilität. Für mich wäre das nichts.




Die Normalität des Nicht-Gleichgewichts und das Phänomen Zufall berühren die in der griechischen Antike gestellte Frage nach dem gelungenen Leben. Von der in den Naturwissenschaften anerkannten Wissenschaftstheorie (einem Teilbereich der Philosophie) abgesehen: Ist das der Punkt, an dem die Philosophie ins Spiel kommt?


Eigentlich kommt die Philosophie schon eher ins Spiel: Immer dann, wenn wir folgende Fragen stellen: Sind wir bereit, beim Phänomen Zufall naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber einem „freischwebenden“ Denken den Vorzug zu geben? Sind wir bereit, in Erwägung zu ziehen, dass „Gleichgewicht“ weder ein normaler noch ein erstrebenswerter Zustand ist? Die Antworten auf diese Fragen sind im Kern philosophischer Art.


Wann kann man (s)ein Leben als ein gelungenes Leben ansehen? – eine Frage, die ich nur für mich beantworten kann. Ich bin sehr neugierig, möchte die Welt, in der ich lebe, immer besser verstehen, und das auf naturwissenschaftlicher Basis. Mein Verständnis möchte ich mit anderen Menschen teilen. Ich möchte mit meinen Möglichkeiten unser Verhältnis zur Natur und unseren Umgang mit ihr verbessern, weniger zerstörerisch machen. Wenn ich in dieser Richtung einige messbare Schritte vorangekommen bin, ist für mich mein Leben wenigstens zufriedenstellend.


„Stillstand“ macht mich unzufrieden. Ich strebe immerzu Veränderung an, natürlich im Sinne von Verbesserung und Fortschritt beim Verständnis der Welt und im Umgang mit der Natur. Aber auch Veränderung im Sinne von „immer etwas Neues, Spannendes beobachten“. Wenn ich das erlebe, ist das Leben für mich interessant und ich gehe davon aus, dass ich es eines Tages retrospektiv im Ganzen als gelungen betrachten kann.




Wir sehen dem Zufall nicht nur mit Freude entgegen. Weil er nicht kontrollierbar ist, stellt er eine potentielle Störung oder Bedrohung dar. Wäre das Leben angenehmer und entspannter, wenn negative Erlebnisse vorhersehbar wären oder es diese Zufälle nicht gäbe?


Es wäre ein furchtbares Leben: langweilig, ohne Anregungen, ohne schöne Erlebnisse und Beobachtungen, denn die meisten (be)merkenswerten Erlebnisse sind diejenigen, die uns überraschen. Ob es der ehemalige Klassenkamerad ist, den ich aus dem Auge verloren habe und nun unvorhersehbar treffe, was zu einem ausgiebigen Schwatz und einem gemeinsamen Mittagessen führt. Oder eine seltene und überraschende Naturbeobachtung: ein Eisvogel, der plötzlich an der Grundstücksgrenze auf einem Busch landet.


Natürlich sind Krisen gefährlich und niemand wünscht sie sich herbei. Aber wenn man sie gemeistert hat, sind sie eine sehr Quelle lange anhaltender Zufriedenheit, denn: „Ich habe dieses schwere, existenzielle Problem gelöst!“




Viele Menschen glauben, eine Karriere generalstabsmäßig planen zu können und begründen den Erfolg, wenn er sich einstellt, ausschließlich mit der eigenen Leistung. Übersehen diese Menschen etwas Grundlegendes? Ist es gar eine Form von Hybris?


Diese Menschen übersehen ganz bestimmt, wie sehr zufällige Begegnungen, zufällige Beobachtungen, Artikel oder Bücher, die sie zufällig gefunden und gelesen haben, entscheidende Wirkung für ihren Erfolg hatten. Viele Menschen unterschätzen das, verdrängen es und rechnen sich das, was sie erreicht haben, komplett als eigenen Erfolg an.


Selbstverständlich ist Erfolg ist auch immer zu einem mehr oder weniger großen Teil von der eigenen Leistung abhängig. Aber diese Menschen können oder wollen nicht sehen, dass ihr Erfolg zum großen Teil dadurch zustande kam, dass verschiedene notwendige Voraussetzungen zufällig zur rechten Zeit zusammenkamen.




Der Zufall wird als Ausnahme vom Normalfall (das vermeintlich Planbare) angesehen. Sie sind hingegen der Ansicht, dass der Zufall unser Leben in einem weit größeren Ausmaß bestimmt als angenommen.


Richtig. Alles in unserem Leben und alles in unserer Umwelt wird von unzähligen Zufällen so gestaltet, wie wir es erleben. Dass ich nur 1,67 m klein bin und nicht 1,85 (alle meine 5 Geschwister sind deutlich größer als ich), ist Zufall; dass ich als einziges der 6 Kinder in unserer Familie die pechschwarzen Haare meiner Mutter geerbt habe, ist Zufall. Dass ich den Job gefunden habe, in dem ich das tun konnte, was ich tat, ist ein schier unglaublicher Zufall (in meinem Buch geschildert).


Dass keine Schneeflocke genauso aussieht wie eine zweite, dass keine Eiche mit ihrem Astwerk, ihrer Krone genauso aussieht wie die Zwillingseiche direkt daneben oder irgendeine andere Eiche, ist Folge unglaublich vieler Zufälle beim Wachstum. Auch menschliche eineiige Zwillinge sind nicht wirklich identisch, so vieles ist auch bei ihnen unterschiedlich, nicht zuletzt die Fingerabdrücke. Keine Galaxie im Universum sieht aus wie eine andere.




Ist der Zufall glücksfördernd, weil er wegen seiner Unvorhersehbarkeit dem Leben die notwendige Würze gibt? Würden wir ohne ihn vor Langeweile auf dem Sofa verkümmern?


So sehe ich das, genau! Das wirkliche Glück ist ein relativ kurz andauerndes Gefühl, das weit über Zufriedenheit hinausreicht. Es ist nicht planbar, sondern das Ergebnis von Zufällen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein tiefes Glücksgefühl strategisch geplant erreicht zu haben. Man kann durch günstige Rahmenbedingungen den Boden für Glücksgefühle bereiten. Aber es stellt sich immer situativ ein. Das Glück ist ein scheues Reh.


Ein Beispiel: Ich erforschte 10 Tage allein in der Einsamkeit eines Wildlife Refuge in Texas die extrem bedrohten Schreikraniche. Es gelang mir lange nicht, ihnen an Wasserlöchern auf wenige Meter nah zu sein. Das musste ich aber, weil ich für das Projekt Aufnahmen von sehr leisen Lautäußerungen dieser Kranichart benötigte. An einem der letzten Tage geschah es unabsichtlich, unvorhersehbar, aus reinem Zufall – ich hatte enormes Glück! Als ich über mein Mikrofon, das einige Meter entfernt direkt am Wasserloch stand, in meinem Kopfhörer ihre für Menschen kaum wahrnehmbaren Kontaktlaute hörte und dann die ebenso leisen Abstimmungslaute „Wir fliegen los“, durchflutete mich eine Welle tiefen Glücks.




Die Pandemie, der Ukraine-Krieg und die Klimathematik bringen viele Menschen an ihre Belastungsgrenze. Als Folge dieser Stressfaktoren steigt das Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Die individuelle Freiheit hat in solchen Phasen nicht die oberste Priorität. Der Zufall stellt eine zusätzliche potentielle Bedrohung dar. Können Sie diesen Menschen etwas aufmunterndes zum Umgang mit dem Zufall sagen?


Ich kann nur sagen, was mich aufmuntert, wenn ich mich durch diese und andere Krisen - Sie vergaßen die größte Krise: die Bedrohung der Biodiversität - deprimiert fühle: Ich werde aktiv. Nicht, indem ich Leserbriefe schreibe oder mich auf einer Straße festklebe oder ständig von der Regierung fordere, dies oder jenes zu tun oder zu lassen, sondern indem ich selbst aktiv handele und dadurch dem Zufall Tür und Tor öffne.




Gemäß Louis Pasteurs Diktum „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist“?


Ja, so in etwa. Ich habe auch aktiv Naturschutz betrieben, was mir zufällig während jahrzehntelanger Forschung unglaublich schöne Erlebnisse bescherte. Ich habe geforscht und dabei zufällig eine neue Stoffklasse entdeckt, die Beiträge zu mehr Nachhaltigkeit leisten kann. Ich habe in einen biologisch wirtschaftenden Bauernhof investiert und diesen nebenberuflich mit-geführt. Dabei haben sich viele zufällige Begegnungen ergeben… mit dem Ergebnis, dass wir uns von 6 Aktiven zu einem Unternehmen mit 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt haben. Inzwischen beackern wir naturnah 450 Hektar Pachtland. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Größe von Naturschutzgebieten in Deutschland liegt bei 301 Hektar, die meisten sind kleiner als 50 Hektar. Zudem betreiben wir 7 eigene Hofläden, darunter 5 in Hamburg. Unsere Aktivität hat also Wirkung gezeigt.


Was ich damit sagen möchte: Jeder kann etwas tun, im Großen oder Kleinen. Das lässt den Zufall herein ins Leben und schafft neben zahlreichen Glücksempfindungen eine andauernde Zufriedenheit.




Herr Dr. Weßling, in der Danksagung zu „Was für ein Zufall!“ Schreiben Sie „Der Ursprung zu diesem Buch liegt in meinem unbändigen Staunen über diese Welt begründet.“ Aristoteles sieht im Staunen den Ursprung der Philosophie. Die Menschen philosophieren, um der Unwissenheit zu entkommen.


Ich versuche durch Lesen, Zuhören und meine Forschungstätigkeit mehr über die Welt zu erfahren und der Unwissenheit zu entkommen. Dann frage ich mich, was das für das Leben, für mich, für die Menschen, für unser Verhältnis zur Natur für Folgen hat. Das ist dann wohl „philosophieren“, jedenfalls nach meinem Verständnis. Dann ziehe ich aus diesen Gedanken Schlussfolgerungen und werde aktiv.




Herr Dr. Weßling, wir bedanken uns herzlich für dieses Gespräch und wünschen Ihnen weiterhin viele bereichernde Zufälle.


Sehr gerne. Auch Ihnen und allen Leserinnen und Lesern alles Gute und zahlreiche schöne Zufälle.





Abschließend ein Video-Tipp unserer Redaktion: Dr. Weßling in der NDR-Sendung DAS! Im Gespräch mit Inka Schneider (verfügbar bis 13.06.2023).




Über den Autor

Dr. Bernhard Weßling ist Chemiker, Unternehmer und Naturforscher mit einem Interesse an philosophischen Fragen, die sich aus seiner Arbeit ergeben. Er hat chemische Produkt- und Verfahrensentwicklungen betrieben und Basisinnovationen realisiert. Dazu betrieb er Grundlagenforschung in der Kolloidchemie/-physik und der Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik. Dr. Weßling lebte und arbeitete 13 Jahre in China, wo er eine von ihm entwickelte Technik auf Basis des von ihm entdeckten Organischen Metalls“ in der Elektronik-Industrie zum Markterfolg führte.


Dr. Weßling lebt heute nördlich von Hamburg am Rande eines Naturschutzgebietes. Er ist Mitgesellschafter eines großen Biobauernhofs. Seine Leidenschaft ist die Verhaltensforschung an wildlebenden Kranichen (Buchveröffentlichung: Der Ruf der Kraniche, Goldmann 2020)




Über das Buch

Bernhard Weßling

Originalausgabe 2022

259 Seiten, 49 Abbildungen

ISBN 978-3658377540

27,99 Euro








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