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Autorenbildfowlersbay

Mir ist mystisch zumute

Der Mensch ist ein Mängelwesen. Unablässig stößt er an Erkenntnisgrenzen, wird von Krankheiten geplagt und muss sich mit der Unabwendbarkeit des Todes arrangieren.


Wie entlastend wäre es, über göttliche Eigenschaften zu verfügen. Alle irdischen Sorgen wären passé. Allerdings verstärkt sich durch den Vergleich mit einer vollkommenen Instanz das Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit. Daraus erwächst bei vielen Menschen die Sehnsucht nach einer Dimension, die durch kein Leid und keine Schwäche berührt wird.


Der Zauber des Unerklärbaren


Vor Sokrates beschäftigten sich Philosophen mit der Suche nach dem Urstoff der Welt. Für Thales war es das Wasser, für Heraklit das Feuer und für Anaximander die Luft. Nach heutigem Verständnis waren sie mehr Naturwissenschaftler als Philosophen. Denn Fragen nach dem gelungenen Leben (eudaimonia) rückten erst mit Sokrates, Platon und Aristoteles in den Mittelpunkt.

 

Eine kluge Weichenstellung, da jedes naturwissenschaftlich erklärbare Phänomen das Terrain der Philosophie verkleinert. Dieser Entwicklung verdankt die Menschheit spektakuläre technologische Fortschritte. Dafür verlieren die Phänomene mit ihrer Ent-deckung einen Teil ihres Zaubers. So hat sich der Mensch über die Jahrtausende von der staunenden zur erklärenden Kreatur gewandelt.

 

„Gibt es denn überhaupt noch etwas, wofür es keine ‚Experten‘ gibt? Noch bevor irgendetwas überhaupt geschehen kann, ist der Glanz der Überraschung schon erloschen.“ (Paul Mommaers)

 

So hat die religiöse oder sprituelle Interpretation natürlicher Phänomene scheibchenweise an Bedeutung verloren. Wer hält heutzutage Blitz und Donner noch für eine Unmutsäußerung Gottes? Die Sehnsucht nach einer außerweltlichen Kraft ist damit nicht erloschen.

 

Für den Dichter und Philosophen Novalis (1772-1801) ist die Philosophie Heimweh und zugleich ein Trieb, überall zu Hause zu sein. Ein Diktum, das für alle kontemplativen Wege, die dem Menschen seine metaphysische Obdachlosigkeit erträglich machen, gilt.

 

 

Esoterik = Mystik?

 

Kein Übermaß an Arbeit, Sport oder Sexualität vermag das spirituelle Verlangen zu stillen. Dafür bedarf es der Religion, Philosophie, Esoterik und Mystik.

 

Populär-Esoteriker sind überzeugt, aufgrund besonderer Empfänglichkeit auserwählt zu sein und in einer dauerhaft privilegierten Beziehung mit dem Universum zu stehen.

 

Im Gegensatz zur teilweise von Hybris geprägten Esoterik ist die christlich mystische Erfahrung oft an eine vorrangige, von hingebungsvoller Demut geprägte Geisteshaltung gebunden. Anders ausgedrückt, an „eine Frömmigkeitshaltung, die zu diesem Erleben hinführen will und mystische Erlebnisse begünstigt“. Diese passive Schau Gottes wird gnadenhaft zuteil.

 

 

Die Kennzeichen der Mystik

 

Etymologisch leitet sich Mystik von myo (gr. schließen, verschweigen) und begriffsgeschichtlich von dem Adjektiv mystikós (gr. geheimnisvoll) ab. Es handelt sich demnach um etwas Verborgenes.

 

Im Christentum bezeichnet Mystik die Sehnsucht nach der Schau Gottes, die nicht nach naturwissenschaftlichen Erklärungen verlangt. Gemäß Paul Mommaers steht die Erfahrung, mit Gott etwas erlebt zu haben im Zentrum. Die wesenhaften Elemente der Mystik sind Demut und Passivität des Gott Suchenden. Mystische Erfahrungen treten unerwartet ein und sind nicht reproduzierbar.

 

Aber ist diese „Begegnung“ mit dem Göttlichen eine Illusion oder wahr im Sinne von nicht-eingebildet? Immerhin blicken viele Menschen „mit rührungsvollem Blick zu einem Himmel hinauf, der in Wirklichkeit leer ist“ (Mommaers).

 

Allerdings kann der Mystiker nicht beweisen, dass der erfahrene Gott existiert.

 

Aber im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern, Juristen, Philosophen und Theologen muss der Mystiker nicht logisch, objektiv, widerspruchsfrei und allgemeingültig argumentieren.

 

 

Der Mystiker: ein Steckbrief

 

Der Theologe und Philosoph Paul Mommaers skizziert die Eigenart des abendländischen Mystikers wie folgt:

 

„Er ist jemand, der auf überwältigende Weise die Anwesenheit erfährt von etwas, das ihn selbst übersteigt und viel wirklicher ist als alles, was man durchwegs als Wirklichkeit betrachtet.“

 

Oder:

 

„Das menschliche Universum – die Welt, in der wir leben, und die uns so selbstverständlich und solid scheint – wird für den Mystiker zu einer durchsichtigen Bühnenwand, weil sich ihm eine andere, endgültige Wirklichkeit anmeldet.“

 

Anders als beim Populär-Esoteriker, der glaubt, nach Belieben in Kontakt zu einer außerweltlichen Instanz treten zu können, ist das christlich mystische Erlebnis ein punktuelles, nicht wiederholbares Ereignis.

 

 

Der Preis der Individualität

 

Der Wunsch, alle Phänomene in die uns bekannte Welt einzusortieren, betrifft auch das Göttliche. Deshalb wird es häufig mit menschenähnlichen Merkmalen versehen. Warum? Weil wir uns zwar nach dem Vollkommenen sehnen, es aber nicht ertragen, dass eine höhere Macht unsere „Vollständigkeit“ in Frage stellt.

 

Die Ich-Erkenntnis des Menschen fordert einen Tribut, denn wer „ich“ sagt, schafft einen Abstand zu seiner Umwelt. Weil jede Ich-Wahrnehmung Einsamkeit impliziert, bleibt zwischen dem Ich und der Umwelt eine unüberwindbare Trennung.

 

Deshalb ist die Persönlich-keit für Paul Mommaers ein zweischneidiges Schwert:

 

„[M]it ihr erobert sich der Mensch einen eigenen Platz in der Welt, aber mit ihr setzt er sich auch, bewusst oder unbewusst, gegen die anderen zur Wehr. Sie bestimmt und beschränkt ihn; sie schenkt ihm seine Ichheit, aber sie erzwingt auch seine Absonderung und Einsamkeit.“

 

Der Mensch weiß und fühlt nicht nur, was er ist, sondern auch dass er ist. Damit hat er allen Grund bekümmert zu sein, denn er wird sich damit seiner Endlichkeit bewusst. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine reichere Erfahrung, die das fragile und einsame irdische Dasein in einen größeren Zusammenhang stellt. Deshalb gilt:

 

„Alle Menschen verlieben sich zu irgendeiner Zeit ihres Lebens in die verschleierte Gottheit, die sie ‚Wahrheit‘ nennen.“ (Evelyn Underhill)

 

Allerdings handelt es sich meist um eine kurze Liebschaft. Weil der Mensch die Unmöglichkeit einer dauerhaften Beziehung erkennt, wendet er sich (von Populär-Mystikern abgesehen) bald alltäglicheren und praktischeren Dingen zu. Trotzdem schlummert bei vielen die Sehnsucht nach einer auf Erfahrung gegründeten Gotteserkenntnis (Bonaverntura).

 

Auch wenn der Durchschnittsgläubige glaubt, die Anwesenheit Gottes gespürt zu haben, bleibt der „Kontakt“ ein indirekter. Bei genauerer Betrachtung geht es mehr darum, dass man für Gott etwas fühlt, als um ein wirkliches Berühren und Genießen des Anderen.“ (Mommaers)

 

Laut Gerhard Wehr schlägt die Stunde der Mystiker in Zeiten eines spirituellen Vakuums. Er betont aber, dass der mystische Impuls nicht ausschließlich ein Gewächs der Krise ist, sondern ein Element der Vitalität des Menschen. Denn der suchende Mensch ist ein Mensch, der nicht aufgegeben hat.

 

Während sich der Populär-Esoteriker erleuchtet wähnt, befindet sich der mystisch begabte Gläubige noch auf dem Weg… ohne die Gewissheit, mit einer Gotteserfahrung belohnt zu werden.

 

„Ich habe Heimweh nach einem Ort, den ich nicht kenne, wo ich aber hingehöre. Dort ist alles in Ordnung.“ (Willigis Jäger)

 

Einfacher ausgedrückt: Ich habe Sehnsucht nach Gott.

 

 



 

 

Literatur

Dinzelbacher, Peter: Wörterbuch der Mystik, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1989.

Jäger, Willigis: Wiederkehr der Mystik. Das Ewige im Jetzt erfahren, 3. Auflage, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005.

Mommaers, Paul: Was ist Mystik?, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1979.

Underhill, Evelyn: Mystik, Turm Verlag, Bietigheim 1928.

Wehr, Gerhard: Europäische Mystik, Junius Verlaq, Wiesbaden.

 

 

 

 

 

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