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Nix is fix - Ungewissheit aushalten

Aktualisiert: 16. Nov. 2020

Der Mensch muss mit Ungewissheiten leben. Im Idealfall, ohne die Nerven zu verlieren. Kann die Philosophie helfen?



Bis vor wenigen Jahrzehnten blieben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer oft ein Berufsleben lang treu. Lehre bei Siemens und von dort aus in die Rente. Ein vorhersehbares Leben - mit allen Vor- und Nachteilen, die ein solcher Entwurf mit sich bringt. Diese Welt und die damit verbundene Sicherheit existiert nicht mehr. Gefühlt ist sie um das Jahr 2000 herum untergegangen.


Schwere Zeiten gab es auch im letzten Jahrhundert: Kalter Krieg, Aids, Erdölkrise - um ein paar zu nennen. Aber etwas hat sich grundlegend verändert: Die gesellschaftsspaltenden Krisen sind zahlreicher geworden und sie finden parallel statt. Kaum noch eine stabile Scholle, auf der man Halt findet.


Die Gesellschaft ist nervös


Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, alle paar Jahre in eine neue Stadt zu ziehen. Ein Wunder, dass Menschen noch feste Häuser bauen und sich dafür verschulden. Da haben uns die Amerikaner mit ihren mobilen Wellpappe-Häusern etwas voraus. Es gibt weitere Herausforderung, die an den Nerven sägen: Den sich dynamisch entwickelnden Klimazielen verdanken wir, dass Autos in der Blüte ihres Lebens über Nacht Schrottwert haben. Zudem zieht sich seit 2015 mit der Flüchtlingsthematik ein unüberwindbarer Graben durch die Gesellschaft.


Als wäre das nicht genug, raubt nun ein Virus aus dem fernen Osten jegliche Hoffnung auf eine unbeschwerte nähere Zukunft. Das Leben hat sich ent- und beschleunigt zugleich: Verlangsamt, weil der Möglichkeitsrahmen durch Corona klein geworden ist. Konzert oder lieber Party? Diese Frage stellt sich nicht mehr. Warum beschleunigt? Weil die Intervalle zwischen den Corona-Beschränkungen immer kürzer werden. Mit den Worten der Hamburger Band Kante: "Es ist laut und viel zu still" (Die Tiere sind unruhig, 2006).


Der Planungshorizont der Menschen hat sich kontinuierlich verkürzt. Im Minutentakt erfolgen Meldungen zu den aktuellen Infektionszahlen. Gefolgt von Maßnahmen, die das soziale Leben auf ungeahnte Weise einschränken. Kann der Mensch in derart turbulenten Zeiten Halt und Zuversicht gewinnen? Findet er, einmal aus der Ruhe gebracht, wieder zu seiner Mitte?


Trost der Philosophie?


Angesichts dieser Pandemie hat die Philosophie ein Problem: Sie muss erst nach einer krisenrelevanten Frage suchen, die sie beantworten kann (Jörg Phil Friedrich). Im Gegensatz dazu lassen sich die Fragestellungen der Virologie oder Epidemiologie eindeutig formulieren. Kritisches philosophisches Fragen erscheint in der Akutphase dieser Pandemie hingegen als Störfaktor und Hemmnis bei der Krisenbewältigung.


„Der Philosoph ist historisch eine Figur, die den anderen auf den Nerv geht.“ (Pia Ursula Jauch)

Kann die Philosophie im Hinblick auf Corona überhaupt einen Beitrag leisten?


Die Philosophie zeigt sich in Krisen nicht als zupackender Problemlöser. Sie gibt keine konkreten Handlungsanweisungen. Sie bewährt sich aber als flankierende Disziplin, die sich mit den grundsätzlichen Fragen des Menschseins beschäftigt: „Wie viel Sicherheit kann es zu welchem Preis geben?“ und „Wie wollen wir als Gesellschaft leben?“. Sie betreffen die Vorstellung von einem gelungenen Leben und den dafür notwendigen Rahmenbedingungen.


Die Philosophie hat auf die aktuelle Corona-Entwicklung, soweit es sich um messbare Ergebnisse handelt, kaum Einfluss. Sie kann aber dem Einzelnen helfen, angesichts unabwendbarer Ereignisse Haltung zu bewahren.


„Und doch ist alles Philosophieren ein Weltüberwinden, ein Anlagon der Erlösung.“ (Karl Jaspers)


Situationen und Grenzsituationen


Richten wir den Scheinwerfer auf den deutschen Existenzphilosophen und Psychiater Karl Jaspers (1883-1969). Er spricht im Hinblick auf das alltägliche Leben von Situationen, in denen sich der Mensch immer schon befindet. Bildlicher ausgedrückt: Wie auf einer Perlenkette reiht sich eine Lebenssituation an die andere. Ständig muss das Individuum Entscheidungen treffen.


„Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder.“ (Jaspers)

Der Mensch hat Einfluss darauf, mit welchen alltäglichen Situationen er es zu tun hat. Er kann sie durch planvolles Handeln begünstigen oder vermeiden. Hinzu kommt sein individueller Blick auf die jeweilige Situation. „Welches Gesicht die Situation mir zeigt, hängt ab von meinen Interessen und meinen Absichten“ (Anton Hügli). Ein Bergsteiger sieht in einer Felswand eine willkommene Herausforderung, ein Wanderer eine furchteinflößende Hürde. Beide haben die Wahl weiterzugehen oder umzukehren.


Es gibt aber Situationen, die sich in ihrer Wesensart jeglicher Beeinflussung entziehen: die Unvermeidbarkeit des Todes, das Ausgeliefertsein an den Zufall und die Ohnmacht gegenüber Naturkatastrophen.


„Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heißt, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können.“ (Jaspers)

Grenzsituationen sind „der Ort, an dem das praktische Lösungspotential eines Menschen an eine unübersteigbare Mauer stößt“ (Emerich Coreth). Nach dem Staunen und dem sich daran anschließenden Zweifel sieht Jaspers in der Bewusstwerdung dieser Grenzsituationen den tieferen Ursprung der Philosophie. Im Alltag werden die Gedanken daran von den meisten Menschen so gut es geht verdrängt.


„Wir vergessen, dass wir sterben müssen, vergessen unser Schuldigsein und unser Preisgegebensein an den Zufall.“ (Jaspers)

Im Idealfall kann der Mensch diesen Grenzsituationen mit Demut und Würde begegnen. Häufiger zeigt sich angesichts existentiell bedrohlicher Situationen Verzweiflung oder Resignation.


„Machen wir uns unsere menschliche Lage auf andere Weise deutlich als die Unzuverlässigkeit allen Weltseins.“ (Jaspers)

Die Welt ist unberechenbar


Wie kann der Mensch dieser Unberechenbarkeit begegnen? Die permanente Bedrohung drängt das Individuum, sich bestmöglich gegen die Wechselfälle des Lebens zu wappnen. Naturbeherrschung und menschliche Gemeinschaft, so Jaspers, sollen das Dasein sichern. Die neuzeitliche und anmaßende Idee der Naturbeherrschung durch fortschreitende Erkenntnis und Technik hat eine lange Tradition. Für René Decartes (1596-1650) ist der Mensch Herr und Eigentümer der Natur. Die Erde ist für den Menschen und auf ihn hin geschaffen.


Corona bestätigt eindrucksvoll das Gegenteil und damit Jaspers Befund, dass alles Verlässliche in der beherrschten Natur nur ein Besonderes im Rahmen der totalen Unverlässlichkeit ist.


Was, fragt sich Hürli, haben wir gewonnen wenn wir dies einsehen? Wenn wir der Verletzlichkeit unserer Existenz gewahr werden?


„Aus der Warte des Bewusstseins überhaupt können wir nichts anderes tun, als dies illusionslos zur Kenntnis zu nehmen. Und uns in philosophischer Gelassenheit üben.“ (Hürli)

Hilft die derzeit angesagte Lehre der Stoiker? Deren radikale Abkehr von der Welt und Konzentration auf das Innen des Menschen hält Jaspers für eine Überlebensstrategie. Eine glücksdienliche Lebensstrategie ist sie nicht. Deren philosophisches Konstrukt entfernt das Individuum von den Mitmenschen. Den Stoikern wird die reale Welt fremd (Franz Schupp). Sie lassen uns trostlos in der bloßen Unabhängigkeit des Denkens zurück. Eine Erlösung in Form des Sich-geschenkt-werden in der Liebe und die hoffende Erwartung des Möglichen bleiben aus. Die stoische Lehre ist reine Krisenbewältigung.


„Die unerschütterliche Haltung der Seele im Stoizismus gilt uns nur als Übergang in der Not, als Rettung vor dem völligen Verfall, aber sie selbst bleibt ohne Gehalt und Leben.“ (Jaspers)


Wo Schatten ist, muss irgendwo ein Licht sein


Grenzsituationen, zu denen auch die Bedrohung durch Corona gehört, sind zugleich Erweckungserfahrungen. Das erschütternde Gefühl der Todesnähe stellt Wolfram Eilenberger zufolge eine Vitalitätsquelle dar. Das Individuum erwacht aus seinem Schlummer und spürt seine Lebendigkeit auf unmittelbare Weise. Die Tatsache, dass Leben stets fragil und gefährdet ist, lässt sich nicht länger verdrängen. In Grenzsituationen ist der Mensch gefordert, Stellung zu beziehen.


Karl Jaspers Grenzsituationen stellen den Menschen als winzigen Teil des Kosmos einem großem Ganzen gegenüber. Dazu gehört die Einsicht, dass es im Leben nicht alleine um Selbstverwirklichung geht, sondern auch um Selbstbescheidung.


An diesem Punkt offenbart sich eine bisher verborgene Dimension, die Jaspers Transzendenz nennt. Dem Menschen geht es um mehr als das nackte Überleben. Er möchte zur Tiefe des Seins, zur „Verewigung“, gelangen und Erlösung finden. Der Mensch sucht den ewigen Sinn. Sei es in der Religion oder in der Philosophie.


Wir können lernen, gelassener mit existentiellen Bedrohungen und der eigenen Angst umzugehen. Es liegt nicht in unserer Möglichkeit, das Eintreten von Grenzsituationen zu verhindern. Diese Erkenntnis ist entlastend. Sie berührt zugleich eine Grundkonstante allen Lebens:


„Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe.“ (Karl Jaspers)



Literatur

Coreth, Emerich: Philosophie des 20. Jahrhunderts, 2. Auflage, Verlag Kohlhammer, Stuttgart 1993.

Descartes, René: Discours de la méthode, in: Descartes. Auswahl und Einleitung: Ivo Frenzel, Fischer Bücherei KG, Frankfurt 1960.

Jaspers, Karl: Die Unabhängigkeit des philosophierenden Menschen, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1997.

Jaspers, Karl: Philosophie II. Existenzerhellung, 4. Auflage, Springer Verlag, Berlin 1973.

Schupp, Franz: Geschichte der Philosophie im Überblick. Band 1 Antike, Felix Meiner Verlag, Jokers Edition, Hamburg 2003.



Internetquellen

Eilenberger, Wolfram: „Grenzsituation“ - ein Begriff mit Schattenseite, https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophischer-kommentar-zu-karl-jaspers-grenzsituation.2162.de.html?dram:article_id=441814 (abgerufen am 29.10.2020)

Friedrich, Jörg Phil: Nicht jede Maßnahme einfach so hinnehmen, https://www.welt.de/kultur/plus217525390/Corona-Was-die-Philosophie-in-der-Krise-besser-weiss.html (abgerufen am 27.10.2020).

Hügli, Anton: „Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe“ – eine philosophische Meditation über einen Satz von Karl Jaspers, https://www.klinikschuetzen.ch/files/events/Vortrag_Prof._Huegli.pdf (abgerufen am 29.10.2020).




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