Eine Tasse ist eine Tasse. Oder? Um das zu klären, wird uns Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, zur Seite stehen. Die Frage, was eine Tasse zu einer Tasse macht, ist nicht trivial - wenn man sie durch die Philosophenbrille betrachtet.
Zugegeben, außerhalb der Philosophie wird sich kaum jemand den Kopf darüber zerbrechen. Warum dann die Mühe? Weil am Ende eine Erkenntnis steht, die sich auf viele Lebensbereiche übertragen lässt. Wer Freude am Denken hat, wird die Welt dank Husserl mit weiter geöffneten Augen sehen.
Husserls Triebfeder
Zu den Sachen selbst! Was wie ein Schlachtruf klingt, ist das auf vier Worte verdichtete Prinzip von Husserls (1858 - 1938) philosophischem Lebensthema. Mit seiner Phänomenologie wollte er philosophische Fragen mit dem gleichen Grad an Gewissheit und Klarheit beantworten, wie mathematische. Zudem wendete er sich als Mathematiker und Philosoph gegen die dominierenden Strömungen seiner Zeit: Wissenschaftsverfallenheit, Naturalismus und Relativismus.
Für Husserl konnten die Wissenschaften, von der Chemie bis hin zur Physik, keine dauerhaft gesicherten Erkenntnisse vorweisen. Warum? Weil deren Theorien auf Sinneserfahrung beruhen. Diesen fehlt aufgrund individueller Sichtweisen, Fehldeutungen und vorgefasster Urteile die notwendige Objektivität und Exaktheit. Die Naturwissenschaften, so Husserl, verlassen sich unkritisch auf ihre Erkenntnisse und stellen ihre Grundannahmen kaum in Zweifel.
Husserl träumte davon, sowohl die Wissenschaften wie auch die Philosophie auf erfahrungsunabhängige Grundlagen zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, war eine radikale Neuausrichtung nötig - und zwar in Gestalt seiner Phänomenologie.
Phänomenologie als Wesenswissenschaft
Der Begriff Phänomenologie geht auf das griechische Verb phainesthai zurück und bedeutet sich zeigen oder ans Licht kommen. Das Phänomen ist demnach „das den Sinnen und der Erkenntnis sich Zeigende“ (Hans Joachim Störig). Kurz gesagt: Phänomenologie ist die Lehre von den Erscheinungen, also von allen Objekten, denen wir als Subjekt begegnen.
Husserl fasst den Begriff enger, indem er seine Phänomenologie nicht als Erscheinungs-, sondern Wesenswissenschaft begreift. Es geht ihm um die Essenz, um das, was einen Gegenstand im Kern ausmacht. Nach dieser Substanz kann mit „Was ist das?“ gefragt und eindeutig geantwortet werden.
„So erweist sich die Phänomenologie als Wissenschaft des Phänomens, d. h. der Wirklichkeit, wie sie sich zeigt.“ (Antonio Ponsetto)
Um die Gegenstände der Erfahrung unverstellt in ihrer Reinheit zu enthüllen, zündet Husserl in seinem 1913 erschienen Ideen zu einer reinen Phänomenologie methodologisch eine zweistufige Rakete: Zunächst übt er Epoché, anschließend erfolgt die eidetische Reduktion.
Epoché: Zurückhaltung üben
Wer aufgrund seiner Persönlichkeit zu vorschnellen oder impulsgesteuerten Urteilen tendiert, kennt die Gefahr von Fehleinschätzungen. Das wusste schon schon Platon, der neben der Tapferkeit und Gerechtigkeit die Weisheit und Besonnenheit zu den Grundtugenden zählt. Die beiden letztgenannten sind für Husserls Theorie relevant. Sie sollen im Hinblick auf Urteile zur Zurückhaltung mahnen.
Als profundem Kenner der antiken Philosophie war Husserl nicht entgangen, dass die Skeptiker versuchten, sich jeglicher Auffassung zu enthalten. Der Grund: Die Ungewissheit allen Wissens. Für sie ist jedes Wissen ist vorläufig. Deshalb wollten sie selbst gesichert scheinenden Sachverhalten weder zustimmen noch diese ablehnen. Diese mehr als 2000 Jahre alte Geisteshaltung wurde Epoché (griech. Ansichhalten, Anhalten) genannt. Husserl nutzte dieses Prinzip für seine phänomenologischen Zwecke. Mit Hilfe der Epoché, dem voraussetzungslosen Erkennen, wollte er den Zugang zum Wesen eines Gegenstandes ebnen.
Dazu wird bei der Betrachtung eines Gegenstandes alles eingeklammert, was man über ihn weiß oder zu wissen glaubt. In einem reduktiven Prozess werden weltliche und religiöse Prägungen, Vorwissen und Vorurteile über die äußere Welt sukzessive aufgegeben (Ubaldo Nicola). Alles, was von der Essenz ablenkt, wird in Klammern gesetzt.
„Die ganze, in der natürlichen Einstellung gesetzte, in der Erfahrung wirklich vorgefundene Welt […] gilt uns jetzt nicht, sie soll ungeprüft, aber auch unbestritten eingeklammert werden.“ (Edmund Husserl)
Epoché üben ist eine langwierige, mühselige und geistig oft schmerzvolle Technik. Warum? Das Denken muss sich von allem befreien, was „täuschend, zufällig und subjektiv erscheint“ (Nicola). Das Ziel der Übung? Man versetzt sich in einen Zustand des interesselosen Betrachtens. Die Epoché erfordert es, einen Abstand zu sich Selbst (seinem Vor-Wissen und Vor-Urteilen) einzunehmen.
„Für die Phänomenologie existiert kein Gegenstand, der als objektiv erkannt und beschrieben gelten kann.“ (Ubaldo Nicola)
Zusammengefasst: Mit Hilfe der Epoché wird nach Husserl die Grundlage zu einer unverfälschten Beobachtung geschaffen.
Eidetische Reduktion: Was bleibt?
Auf die Epoché folgt die eidetische Reduktion. Sie stellt einen kontrollierten Vorgang dar, bei dem zu einem Gegenstand gedanklich alle möglichen Variationen gebildet werden. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Das Ergebnis ist eine große Mannigfaltigkeit. Diese Vielfalt „zeichnet sich sowohl durch Differenzen als auch durch Gemeinsamkeiten aus“ (Ubaldo Nicola).
Die eidetische Reduktion lässt sich am Beispiel einer Tasse demonstrieren. Sie könnte groß oder klein, rund oder eckig, bedruckt oder einfarbig sein. Darüber hinaus hat sie ein oder zwei Griffe.
Nun richtet sich das Augenmerk auf die Gemeinsamkeiten, die alle Variationen verbinden. Was übrig bleibt, ist der phänomenologische Kern. Er entspricht der idealen Bedeutung und dem Wesen des Gegenstandes. Es ist zugleich die Antwort auf die Frage „Was ist das?“.
Zwei Eigenschaften teilen sich alle gedanklich vorgestellten Tassen: Es handelt sich um einen oben offenen Hohlkörper, der mit einer Flüssigkeit gefüllt werden kann. Zudem besitzt die Tasse mindestens einen Griff, um sie mit den Fingern zu fassen.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass von keiner der wesentlichen Eigenschaften abgesehen werden kann, ohne den Gegenstand zu einem kategorial anderen werden zu lassen. Die nebenstehende Abbildung von Picassos Stier verdeutlicht das auf eindrucksvolle Weise. Ein fehlender Strich, und der Stier ist nicht mehr als Stier identifizierbar.
Somit dient die eidetische Reduktion auch als Grundlage für eine universelle Erfahrung. "Zu den Sachen selbst!" bedeutet im Falle einer Tasse, diejenigen Eigenschaften herauszuarbeiten, die für die Existenz als Tasse notwendig sind. Fehlt der Henkel, wird die Tasse zum Becher.
Der Nutzen der Phänomenologie
Phänomenologie ist laut Störig eine streng sachliche, vorurteilsfreie und methodisch genaue Denkweise, für die es zahlreiche Anwendungsgebiete gibt. Sie kann einen wertvollen Debattenbeitrag leisten, wenn es um die Frage geht, ab wann ein Gegenstand seine Identität verliert (Stichwort: Schiff des Theseus).
Im Bereich der Organverpflanzung stellt sich beispielsweise die Frage, welchen Einfluss ein Spenderorgan auf die Identität des Empfängers hat. So lehnen laut einer Göttinger Studie Spenden-Skeptiker die Transplantation des Herzens ab, weil sie dort den Sitz der Seele vermuten.
Husserls Methode kann einen Debattenbeitrag leisten, wenn es darum geht, welche körperlichen Eigenschaften die Identität eines Menschen bestimmen. Gliedmaßen sind für den ontologischen Status des Individuums nicht notwendig. Eine Herzverpflanzung führt vermutlich nicht dazu, von einem völlig anderen Individuum zu sprechen. Die Frage ist, an welchem Punkt ein Mensch aufhört, der zu sein, für den er sich hält? Wahrscheinlich ist es das Gehirn, das ihm eine unverwechselbare Identität verleiht. Nach Husserls phänomenologischer Methode ist dieses Organ (mehr als das Herz) das essenzielle, das Individuum exklusiv auszeichnende, und damit unverzichtbare Merkmal. Mit einer Transplantation des Gehirns (sollte dies eines Tages möglich sein) würde dieser spezielle Mensch aufhören zu existieren.
Husserls Traum, der Philosophie eine, der Mathematik und Logik vergleichbare, Geltung zu verschaffen, hat sich nicht verwirklicht. Aber er hat mit seiner phänomenologischen Reduktion eine Methode von zeitloser Präzision hinterlassen.
Literatur
Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2009.
Nicola, Ubaldo: Bildatlas Philosophie, Parthas Verlag, Berlin 2007-
Rentsch, Thomas: in: Die großen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Hrsg. Bernd Lutz, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1999.
Ponsetto, Antonio: in: Philosophisches Wörterbuch, von: W. Brugger u. H. Schöndorf, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau 2010.
Schicktanz, Silke mit Pfaller, Larissa u. Hansen, Lena Solveig: Einstellung zur Organspende: Kulturell tief verwurzelt, in: https://www.aerzteblatt.de/archiv/182029/Einstellung-zur-Organspende-Kulturell-tief-verwurzelt (zuletzt abgerufen 31.05.2021).
Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 6. Auflage, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2011.
Ein kluger Beitrag, der anmahnt, weniger subjektiven Sinneswahrnehmungen zu folgen, die oft zu realitätsfremden, aber umso destruktiveren manipulativen Motiven aufgeblasen werden (Querdenkerzündstoff), sondern sich auf verbindenden, objektive Gemeinsamkeiten mit einer unverwechselbaren Identität im Sinne der eidetischen Reduktion zu konzentrieren.