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GASTBEITRAG: Ästhetik und Evolution,Teil 2

Aktualisiert: 22. Okt. 2023

Existiert in der Natur Schönheit ohne den anschauenden Menschen? Im ersten Teil seines Beitrages ist Helmut Walther der Frage nachgegangen, was gemeint ist, wenn wir von Fühlen und Gefühl reden. Im zweiten und letzten Teil konzentriert er sich auf den Zusammenhang des Schönen mit dem Gefühl.


Helmut Walther

Ästhetik und Evolution, Teil 2


II. Die Herkunft des „Schönen“


So, wie die Vernunft vom Wesen der Dinge auf das Ideal schließt, ebenso der Verstand

vom Nützlichen auf das Schöne. So, wie dem Mythos des Verstandes die Metaphysik der Vernunft entspricht, und dessen Moralen die Ethik der Vernunft, geradeso verhalten sich zueinander das Ideale der Vernunft und das Schöne des Verstandes. Damit wird sogleich klar, dass die hier vorzutragende Hypothese weder die Kant-Schopenhauersche Auffassung vom „interesselosen Wohlgefallen“ beim Anschauen des Schönen noch die metaphysische Begriffsbestimmung des Schönen teilt, die sich aus der Übereinstimmung

von „Schein und Wesen“ ergeben soll. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass sich das Wesen der Schönheit vor allem aus evolutionären Gesichtspunkten

ergeben muss; denn jeder andere Frageansatz würde von vornherein unhinterfragbare

Metaphysik voraussetzen und die Schönheit anthropozentrisch verklären, anstatt sie empirisch zu erklären. Der Darwinsche Grundgedanke der Entwicklung und der Auslese am Bestehenden bietet so auch für das Wesen des Schönen den besten Erklärungsansatz.


„Kunst“ wickelt sich in der Rezeption des jeweiligen Vermögens aus und erreicht ihren Höhepunkt im Umschlag zur eigenen Reflexion: Das jeweilige Vermögen bringt damit sich selbst zunächst unbewusst die Maxima seiner Wert-Schätzung in die Welt. Für den Verstand ist dies das für die Sinne überwältigend Über-Waltende (von den Höhlenmalereien bis zu den Pyramiden), für die Vernunft das Wesens-Optimum des Idealen (von Kunst und Ethos der Griechen bis hin zum „Erhabenen“ Kants).


Eine erste mögliche Begriffsverwirrung ist insoweit auszuräumen, als die meisten Theoretiker des Schönen ihre Lehre „Ästhetik“ benennen. Diese Verwendung schränkt den griechischen Begriff der aisthesis auf eine Teilbedeutung als „Feingefühl“ ein; das ursprüngliche Spektrum des Wortes ist jedoch wesentlich umfassender und reicht von Empfindung über Gefühl und Sinn zu Erkenntnis, Verständnis und Bewusstsein, deckt sich also mit demjenigen, was hier als Verstandesvermögen bezeichnet wird.16 Die aisthesis benennt mithin jenes Vermögen, das die Dingwelt unter eigenständiger Speicherung der benennenden Begriffe aus dem Meer der verschiedenen Eigenschaften mittels deren Rückführung auf einen Wirkungsträger erst „hervortauchen“ (15) lässt.


Im hergebrachten Begriff der Ästhetik spricht sich jedenfalls die richtige Beobachtung aus, dass das Schöne empfunden werde, wobei das Individuum in diesem Fall von seinen Emotionen geleitet wird; eine Reflexion dieser Empfindungen mittels Vernunft findet nicht statt, und der Verstand nimmt dabei nur die Aufgabe des dienenden Verstehens wahr. Im Normalfall wird auf diese Weise der Empfindung des Schönen eine apriorische Unhinterfragbarkeit unterschoben. „Was Schönheit sey, weiß ich nit“, bekannte schon Albrecht Dürer!


Wenn im folgenden öfter von einer Empfindung des Schönen die Rede ist, so deshalb,

um den Anschluss an den herkömmlichen Sprachgebrauch zu wahren, der mit der „Empfindung des Schönen“ auf die eigentliche Unbewusstheit der zugrundeliegenden

Urteilskriterien verweist. Zu lesen ist hier immer „Fühlen“, denn diejenigen menschlichen Empfindungen, an denen der Verstand ursächlich mittels eigener Interpretation beteiligt ist, vollziehen sich im Unterschied zum Tier immer als Gefühl. Gefühle entstehen also aus dem

aktiven Zusammenwirken des Verstandes mit der Emotio. Zu einer ausschließlich

ästhetischen Begriffsbestimmung der Empfindung des Schönen steht weiter im Gegensatz,

dass es auch in Bereichen der Vernunft sowie in Bezug auf die Transzendenz (17), also im rationalen (18), ethischen und numinosen Bereich, eine Form der Schönheit gibt, die mit einem solch emotional bestimmten Begriff „Ästhetik“ überhaupt nicht erfasst werden kann.


Der rein ästhetische Typ, der alle wichtigen Entscheidungen über die Emotio fällt – was gerne auch als „Sensibilität“ bezeichnet wird – ist sehr selten, vielmehr besteht die Menschheit in der Hauptsache aus Mischtypen zwischen Emotio, Verstand und Vernunft, die sich auf eine individuell variierende Anzahl von emotionalen und rationalen Leitwerten konzentriert haben. Dieser Mischzustand wird bei der Beurteilung des Schönen selbst noch

in der einzelnen Brust Verwirrung stiften, da sich die emotionale Empfindung des Schönen und die rational oder ethisch als „schön“ geforderte Bewertung häufig widerstreiten. Wird von einer sensiblen Natur der Mord am Helden im Drama womöglich als entsetzlich empfunden, vor allem vom weiblichen Geschlecht, so stellt der Verstand eine Kosten-Nutzen-Rechnung an, ob wenigstens das Ergebnis dem Einsatz entspricht; für den Ethiker hingegen steht mit eben diesem Tod der Held unwiderruflich auf dem Gipfel von Ruhm,

Ehre und Würde. Diese ethische Bewertung lässt sich dann durchaus als „schön“

ansprechen, meint aber etwas völlig anderes als die ästhetische Bewertung. Anders gefragt: Wer würde wohl die vielen bluttriefenden Kreuzigungsdarstellungen als „schön“ bezeichnen, bei wem lösen die Bilder aufgeschlitzter Märtyrer ästhetisches Wohlgefallen aus?


Wie nicht anders zu erwarten, begann diese Vermischung und Verwirrung hinsichtlich

des Schönheitsbegriffes sofort mit dem Hervortreten der Rezeption der Vernunft bei den Griechen. Diese Entwicklung setzte etwa mit dem 8. Jh. vC (Naturphilosophie) ein und kristallisierte sich schließlich im 6./5. Jh. vC zum Lebensideal der „Kalokagathie“, zusammengesetzt aus kalòs k(aì) agathós (19): das ästhetische und das ethische Moment werden zusammengesetzt, und die Verwirklichung beider Kategorien zum Lebensideal erkoren.


Daraus ist als erstes die Frage abzuleiten: Was wird eigentlich aus dem Schönen im Aufstieg zur Vernunft? Hat es als solches dort überhaupt Platz, und wenn ja: Was denn am Schönen gelangt in die jeweils höhere Kategorie, was wird auf diesem Wege ausgeschieden? Und: welche Kriterien müssen erfüllt werden, damit in diesen Kategorien etwas „schön“ genannt wird? Bevor wir hier „hinauf“- steigen, muss zunächst geklärt werden, oder doch zumindest der Versuch dazu unternommen werden, was denn Schönheit in der Verstandeskategorie überhaupt sei – woher ist sie uns Menschen gegegegeben worden und wozu? Wir haben also zunächst hinabzusteigen.


Erste These: In der Natur existiert keine Schönheit ohne den anschauenden Menschen.

Die „Schönheit“ liegt nicht in den Dingen, sondern sie ist eine Interpretation des die Außenwelt mittels Verstand erschließenden Bewusstseins des Menschen, der damit zu allererst die Dinge ent-deckt. Zu diesem Zweck werden die Dinge der Welt zunächst mit der Emotio bewertet und in deren Gegensätze von angenehm/unangenehm geschieden, auf denen wiederum die Verstandesscheidungen von nützlich/schädlich beruhen. Wir haben somit zwei Dinge zu untersuchen: Was speziell an den Dingen ist es, das wir als „schön“ interpretieren; und wie und wodurch kommen wir überhaupt dazu, eine solche Interpretation und Empfindung auszubilden?


Dass wir das eine Ding als schön bezeichnen, ein anderes aber nicht, gründet in der

Ausdifferenzierung dieser Dinge durch die Natur selbst, die jene Unterschiede schon vor jeglichem anschauenden Bewusstsein und somit zu ganz anderen Zwecken geschaffen hat: Sie gestaltet damit die Beziehungen zwischen den Lebewesen pflanzlicher und tierischer Art, sei es innerhalb einer Spezies, sei es artübergreifend. Die Interaktion setzt die Auffälligkeit des Beziehungssignals voraus, durch welches diese Interaktion vermittelt werden soll.


Dies ist das allererste Kriterium der „Schönheit“, wie wir Menschen sie dann in ausdifferenzierter Weise in der Natur vorfanden. Die Natur macht sich alle sensorischen

Fähigkeiten der verschiedenen Lebewesen zunutze in Wechselwirkung zwischen

Beziehungssignalen und Sinnesorganen, welche unter den jeweiligen Umständen eine bestimmte Signalart begünstigen. Hier mögen stellvertretend stehen die Variationen von Form und Farben der Blüten, welche die Insekten zur Bestäubung „verleiten“. Von daher ist die Natur voll von Auffälligkeiten – sie ist Differenzierung.


Diese vollzog sich ebenso evolutionär und utilitaristisch, also im Hinblick auf einen ganz bestimmten Zweck in der Interaktion, wie sie sich der Mensch als letztes Glied dieser Kette zunutze machte. Denn er bezog diese zunächst gar nicht für ihn „gemachten“ Auffälligkeiten auf sich selbst und bewertete sie dabei mittels seines aus dem Tierreich hergebrachten Empfindungsvermögens. Diese Bewertung gilt in der Rezeption des Verstandes aber nun nicht den Eigenschaften von Dingen, sondern die Dinge selbst werden in der Ausbildung des Verstandes festgestellt und bewusst, und mittels Emotio in

angenehm/nützlich und unangenehm/schädlich eingeteilt.


In diesem Entwicklungsstadium sind wir noch weit entfernt davon, dass man bereits von einer Erfahrung von Schönheit im Sinne der Verstandeskategorie als einer verselbständigten Empfindung sprechen könnte. Vielmehr beschränkt sich diese neue Erfahrungsmöglichkeit der Dinge zunächst auf die Verbindung des Auffälligen mit dem Angenehmen und Nützlichen.


Der Mensch macht sich zunächst rezipierend diese Fähigkeit des Differenzierens und Zuordnens durch Auffälligkeiten, welche er der Natur unbewusst abschaut, selbst zunutze. Dazu zählen etwa die Kenn-Zeichnung von Gegenständen, oder die Kenn-Zeichnung der Gruppe und der Mitglieder innerhalb der Gruppe, um die Zusammengehörigkeit beziehungsweise die Rangordnung sichtbar zu machen. Genauso wichtig – bis heute – sind die Signale für die Fortpflanzungspartner, was bereits Darwin als „sexuelle Selektion“

beschrieben hat: Ohne diese


„wäre die Welt stumm und grau, bevölkert von tarnfarbenen Überlebensmaschinen, eine jede misstrauisch in ihre ökologische Nische geduckt." (20)

Auf all jene idyllisch-romantisierenden Versuche einer „Nachempfindung“ der „Schönheit

von Natur“ und der Geborgenheit in ihr, wie sie etwa ein J.-J. Rousseau mit seinen „edlen Wilden“ propagierte, konnte der frühe Mensch gar nicht kommen, weil ihm die Reflexion dazu fehlte. Er war von Haus aus in der Natur geborgen, der Bezug zur Natur war für ihn einfach und direkt. Tier war er zwar nicht mehr, als er mit dem Verstand die emotionale Verwiesenheit auf die Gegenwart von Eigenschaften der Dinge im Medium der Zeit als

Dauer im Nach- und Nebeneinander der Dinge selbst überwunden hatte; Mensch in unserem Sinne aber war er noch nicht, insofern er den Wirkungen der Natur unreflektiert

und direkt ausgesetzt war.


Zu einem abgezogenen Begriff des Schönen kann es erst mit der Kunst kommen, wenn künstlich/handwerklich-selbstgeschaffene, der Natur nachgeahmte beziehungsweise sie versinnbildlichende Gegenstände dieser gegenübergestellt werden. Solche kulturellen Artefakte entstehen zunächst aber – neben der oben genannten Zugehörigkeitsbezeichnung von Gebrauchsgegenständen, wie etwa die Becher- und Krugformen beziehungsweise deren „Schmuckmuster“ – aus numinosen (göttlich, heilig, Anm. d. Red.) Motiven, die wohl am gemeinsamen Ursprungspunkt von Kunst und Religion stehen. Mit der vom Verstand erkannten und diesen Verstand allzu häufig überwältigenden Ausgesetztheit (Ek-Sistenz) galt es sich ins Benehmen zu setzen.


Die Erfahrung der Überwältigung, die mit dem erwachenden Verstand auf die Wirkung von Dingen zurückgeführt werden konnte und musste, wurde gebunden und eingebunden ins Leben, indem man ihr einen gesonderten Bereich zuordnete. So brachte man diese Erfahrung einerseits aus dem alltäglichen Leben heraus, d.h. man blieb handlungsfähig;

andererseits behielt man diesem Erfahrungsbereich besondere Bezirke vor, heilige Orte und geweihte Stellen, an welchen sich dies Grauen in besonderer Weise kundtat – kundtat vor allem den dafür „Begabten“, das heißt in der Regel denjenigen, welche durch Veranlagung mit der Offenheit ihrer verstandesmäßigen Rezeption an der Phylogenesespitze standen.


Um jene Bereiche – meist Höhen und Haine, aber auch Moore und Höhlen, wo es dem Menschen un-heimlich ist – von den profanen abzuscheiden, mussten sie in besonderer

Weise be-zeichnet werden, und dies im doppelten Wortsinne als Begriff und als Akt. Die direkt-sinnliche Eingebundenheit wirkt sicherlich zunächst dahin, dass die Erfahrungen jener überwältigenden „Kräfte“ im verstandesmäßigen Erleben des Ausgesetztseins als Dämonen und Naturgottheiten immanent symbolisiert wurden. Damit konnten sie in und

mit der Anschauung als sinnliche Gegenstände festgestellt werden, um sie umgänglich

zu machen oder zu bannen.


So geben uns die Fels- und Höhlenmalereien aus den frühesten Zeiten ein Bild dieser doppelten Bezeichnung, auch wenn wir diese Kultvorstellungen nicht mehr nachvollziehen

können – und mit eben solchen Be-Zeichnungen im wahrsten Sinne des Wortes scheint die Kunst und damit die Geschichte der Empfindung von Schönheit begonnen zu haben.(21)


Es liegt auf der Hand, denn es deckt sich mit der piktografischen Wahrnehmungsweise und Abstraktion unserer Sinnesorgane selbst (22), dass diese bezeichnende Darstellungsweise ohne Reflexion nur typisieren konnte. Die direkte Anschauung und Nachahmung des Natürlichen wählt geradeso wie die Natur in den Beziehungssignalen das Auffällige aus, das „Vorspringende“. Das Wiedererkennungsmuster ist die notwendige Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung, das heißt, der Gegenstand wird in der Darstellung geradeso wie in der Wahrnehmung auf sein Sinn-Fälliges, in die Sinne Fallendes verkürzt. Mit dieser

Fähigkeit zur bezeichnenden Darstellung ist zwar in den Menschen immer noch nicht das Gefühl des Schönen vorhanden, aber ihr Ursprungsgrund: die für jedermann sichtbare Differenz zwischen dem natürlichen Gegenstand und seiner typisierten Darstellung.


Der Prozess des Sesshaft-Werdens, der Ausbildung von Machtzentren mit all seinen

zivilisatorischen Folgen, insbesondere der Spezialisierung durch Arbeitsteilung samt der weiteren Ausdifferenzierung der Rangordnung innerhalb der Spezies Mensch, profaniert auch diese bezeichnende Darstellung. Zunächst geschieht dies wohl in einer „einfachen“ und direkten Ableitung, als der oder die Herrschenden in Nachahmung der göttlichen Geweihtheit sich ihres Herausgestelltseins durch „Bezeichnung“ versichern. Die äußerlichen Zeichen der Würde sind denn ja auch heute noch sehr gefragt...(23)


Jene durch die Sesshaftigkeit sich auf der Basis der Rezeption des Verstandes wechselwirksam steigernden kulturellen Fähigkeiten und Bedürfnisse bringen das Handwerk und dessen Spezialisierung hervor, was gleichzeitig auch der Darstellungsfähigkeit im Dienste von Gottheiten und Machthabern zugute kommt. Die

be-zeichnende Nachahmung der sichtbaren Gegenstände bleibt zwar immer noch direkt, aber sie nähert sich ihrem Objekt immer mehr an und wird in der Reflexion des Verstandes schließlich naturgetreu – man sehe etwa die hervorragende Nachbildung von Katzen durch

die Ägypter.


Diese neue „Kunstfertigkeit“ bringt damit ein neues Differenzbewusstsein in die Köpfe der Menschen: Dass es innerhalb der durch das „Kunsthandwerk“ geschaffenen Gegenstände Unterschiede in der Qualität der Darstellung gebe, und dass das naturgetreue Abbild einer typisierenden Annäherung vorzuziehen sei. Warum? Dies sollte sich durchaus evolutionär

erklären: Die naturgetreue Darstellung erringt mehr Aufsehen und trägt damit mehr Ansehen ein, sei es der Gottheit, sei es den Mächtigen. Damit hat die Empfindung der Schönheit als ein emotionales Differenzbewusstsein, das über die Qualität einer künstlich gefertigten Darstellung mittels sinnlicher Wahrnehmung und sinnlichen Vergleichens ein Urteil fällt, Einzug in die Menschheit gehalten.


Nicht zwar als die Empfindung des Schönen an sich, aber in Gestalt eines komparativischen Urteils über den Vergleich von Vorstellungen des Verstandes mittels Emotio: etwas sei mehr oder weniger schön. „Schön“ steht hier also noch für eine Überwältigung der sinnlichen Erfahrung in nicht für möglich gehaltener Weise etwa durch die Naturtreue einer Darstellung, deren kultischen Ausdruck bzw. mittels schierer Größe, etwa durch Menschenhand zugleich geschaffene und gebändigte Bauwerke.


Zweite These: Das Bewusstsein von Schönheit als die verselbständigte Empfindung des Schönen an sich ist ein Ergebnis der Rezeption der Vernunft. Der Endpunkt der

verstandesgemäßen Auswicklung von „Schönheit“ ist erreicht, wenn nach der

Ausschöpfung der aktiven Potenz des Verstandes mit der sich steigernden Qualität des Handwerks die naturgetreue Darstellung möglich geworden ist beziehungsweise

typisierte und nunmehr gültige Muster festgestellt worden sind. Diese drücken ganz offenbar das Maximum der Aussagefähigkeit dieser Kulturstufe aus und werden nurmehr tradiert, ohne verbessert werden zu können (siehe wiederum die Kunst der Ägypter). Das „Ideal“ des Verstandes als Schönheit ist damit erreicht.


Zur Weiterentwicklung dieser Stagnation war dann ein Neues gefordert: die Anlage zur Rezeption der Vernunft sowie deren Begünstigung durch die Kreuzung der alten

Hochkulturen. Die abendländische Kultur und Kunst als eine Kultur der Vernunft beginnt mit der Einwanderung der griechischen Stämme und deren Niederlassung in Vorderasien. Von dort aus, im strategisch wichtigen Einzugsgebiet für die jeweils herrschende Großmacht sitzend, machten jene notwendig Bekanntschaft mit all den vor ihnen selbst liegenden Kulturen – der lydischen, babylonischen und persischen wie auch der phönizischen,

kretischen und ägyptischen.


So entstehen zunächst in Kleinasien übergreifend auf das alte Hellas nicht zufällig die Philosophie und die „neue Kunst“ gleichzeitig: Die eigenständige Rezeption der Verstandesdaten in Wechselwirkung mit der Kreuzung aller Kenntnisse der Zeit erlaubt den

entscheidenden Schritt zur Vernunft, von der Beobachtung des Typischen auf das darunter liegende Wesentliche zu schließen. Es wird erkannt, dass eine bestimmte äußere Eigenschaft, ein besonderes Merkmal, auf eine besondere und wesentliche Aufgabe zurückzuführen ist, und dass diese besondere Wesensart in ihrer Funktion und Gestaltung in sich selbst unterschiedlich ausgestattet sein kann, sowie, dass nicht jede Ausstattung einer wesentlichen Anlage für die damit zu erfüllende Aufgabe gleich gut geeignet sei.

Denn die sich eröffnende Vernunft vermag nicht nur, wie der Verstand, das Außen direkt zu erfassen und entlang an dessen Typischem zu begreifen, sondern auf dem sich vertikal zum Verstand öffnenden Bewussteinsspiegel der Vernunft können die wesentlichen Eigenschaften der Dinge isoliert und verglichen werden.


Diese Wandlung des Sehens hin zum dialektischen Vergleichen führt in der Kunst zu einem neuen Maßstab des Schönen, oder vielmehr überhaupt erst zum „Schönen an sich“. Einerseits wird das Typisierende, das Stereotype, das vordergründig Absichtsvolle und Hergebrachte überhaupt verworfen, und damit die Darstellungsfähigkeit von „kunstfremden“ Fesseln befreit. Andererseits erkennt man, dass die Naturtreue zwar notwendige, aber nicht alleinige Bedingung des Schönen ist, sondern dass vielmehr noch hinzuzutreten haben die Richtigkeit und Geeignetheit.


Das bedeutet erstens, dass an die Stelle des Typisierens die Darstellung der Individualität

des Menschen tritt; und es bedeutet zweitens, dass diese Individualität zur Idealität gesteigert wird: Die Abstraktionsfähigkeit des Künstlers sondert in der Darstellung alles Zufällige ab und konzentriert sich bewusst und im Gegensatz zur unbewussten Abstraktion von Sinnesorganen und Verstand auf das Wesentliche, das Allgemein-Gültige (was parallel ideengeschichtlich über die Dialektik zur Ethik hinführt – dies der Zusammenhang zur Philosophie). (24)


Der Ideal-Typus muss vom Künstler zusammengesetzt werden, indem er an lebenden Mitmenschen den jeweils „schönsten“ Teil wie Leib, Gesicht oder Haltung studiert; das Kriterium des „Schönen“ seitens des Künstlers bildet die „Richtigkeit“, welche aus der Naturtreue und Geeignetheit hervorgeht, dies ist das eigentlich Neue: Am „schönsten“ ist derjenige Leib oder dessen Teil, der am besten zu der ihm gestellten Aufgabe dient; am

„schönsten“ ist ein Gesicht, das die Menschen zu seinem Träger hinzieht – und auch hier am Grunde der Kunst immer noch die Evolution und ihr selektierender Utilitarismus!

Ein solch zusammengesetzter Idealtypus ist dann zwar naturgetreu in seinen Einzelheiten, stellt aber insgesamt eine höhere Wahrheit dar, als sie die Natur gemeinhin hervorbringt.


Nun sind derartig handwerklich-künstlerische und gleichzeitig reflexive Fähigkeiten zur Erschaffung solcher Kunstwerke damals wie heute immer nur sehr wenigen Individuen einer Generation gegeben. Das durchschnittliche Schönheitsempfinden sowie auch dessen „Undeutlichkeit“ geht aus der Rückwirkung hervor: Solche idealtypischen Kunstwerke erregen die Bewunderung der Menschen in ähnlicher, aber in qualitativ neuer Weise gegenüber dem vorherigen Bestaunen beziehungsweise Beeindruckt-Werden, weil sie hier die eigene Art in der Überhöhung zu Gesicht bekommen.


Die dabei empfundene Differenz zwischen dargestellter Idealität und der beobachtbaren Wirklichkeit hält rückwirkend Einzug in das Empfinden des eigentlich unreflektierten Normal-Menschen. Ohne zu wissen, wie oder warum, fühlt sich seine Emotio von der überhöhten Möglichkeit dieses Idealtypus überwältigt – und damit hat sich die eigentliche „Empfindung des Schönen“ innerhalb der Menschheit etabliert, und so vermag Kunst

„den ganzen Menschen mit Kopf, Herz und Hand“ anzusprechen, und von ihr geht seither eine Wirkung aus,


„die uns bewegt, uns wach macht, verschüttete Möglichkeiten zeigt und verfestigte Formen aufbricht." (25)





Über den Autor

Helmut Walther, Jahrgang 1947, wohnhaft in Nürnberg, langjährige Vorstandstätigkeit in der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg und der LudwigFeuerbach-Gesellschaft Nürnberg, Hauptredakteur der Zeitschrift „Aufklärung & Kritik“, Autor bzw. Webmaster diverser philosophischer Internetprojekte.



Anmerkungen

15 Masson/McCarthy, S. 258: „Selbst-Bewusstsein gibt es auf emotionaler wie auf intellektueller Ebene. Emotional kann es das Gefühl des Unbehagens sein, beobachtet zu werden (oder sich selbst zu beobachten) – eine Form der Blamage also. Intellektuell ist Selbst-Bewusstsein das Reflektieren über den eigenen Verstand, die eigene Existenz, das eigene Handeln – ein philosophisches Minenfeld.

Spiegel-Experimente mit Primaten sind die Ausgangspunkte in der Debatte um die Frage gewesen, ob Tiere Bewusstsein von sich selbst haben oder haben können. Schimpansen, die mit Spiegeln vertraut

gemacht werden, lernen offensichtlich, dass es sich um ein Abbild ihrer selbst handelt. ... Orang-Utans haben ebenfalls gelernt, das Bild im Spiegel als ihr eigenes zu erkennen; bei den Nicht-Menschenaffen

ist das bislang noch nicht passiert. Für einige Beobachter ist das ein Indiz für Selbst-Bewusstsein.

Andere behaupten das Gegenteil.“ Eines wird hier doch auf jeden Fall deutlich: Nur bei Menschen-Affen, also unseren allernächsten Verwandten, der „Übergangs-Form“ zu uns selbst hin, ist so etwas wie ein Ich-Bewusstsein nachweisbar – das heißt aber doch vor allem: bei allen anderen mit Empfindung ausgestatteten Lebewesen ist dies nicht der Fall. In der Empfindung nimmt das Tier

mithin sich selbst, sein Selbst wahr, aber kein Ich.

16 Zu beachten ist auch das griech. Stammwort aisthanomai (empfinden, fühlen, wahrnehmen, verstehen), dessen Wortbedeutung offensichtlich den gesamten Erfahrungsbereich des Verstandes abdeckt; seine deponentiale Form verweist zurück auf das Berührtwerden, also die eigenständige Affizierung des Verstandes, vermittelt durch die Sinne und Emotio.

17 Unter „Transzendenz“ wird im gesamten Text nicht irgendetwas Mystisch-Metaphysisches verstanden, sondern dieser Begriff bildet das auf die kulturelle Evolution bezogene Pendant zum Begriff „Emergenz“ in der Natur: eine Einstellung, die sich bewusst über den bisher erreichten Status des Menschlichen hinaus bezieht, weil ein Ende der Evolution wohl von niemandem ernsthaft behauptet werden kann. Vgl. auch Anm. 5 oben: Vollmer weist dort einen solchen Wortgebrauch zurück, wie ihn (mir unbekannterweise) schon H. Schriefers einführte. Der Begriff wird hier dennoch beibehalten, weil er mir insbesondere in der kulturellen Evolution des Menschen die notwendige Eigenaktivität besser auszudrücken scheint als die anonyme „Emergenz“. Und so enthält der Begriff „Transzendenz“ vor allem auch den Akt der (zeitweiligen) Sinnstiftung, die mit dieser kulturellen Evolution ja ebenfalls angesprochen ist. Vgl. Vollmer, Auf der Suche nach Ordnung, S. 15: „Vielleicht erreichen wir ja dabei noch eine weitere, eine fünfte Weltbildstufe, eine Stufe etwa, auf der – wie in den Mythen – Fakten und Normen wieder zusammengehören ...“

18 Selbst in der Naturwissenschaft wird von „Schönheit“ gesprochen, etwa der „Schönheit von Theorien“; dies geht etwa bei Steven Weinberg soweit, dass er die „Schönheit“ einer Theorie zu einem

Wahrheitskriterium derselben macht.

19 „schön und gut“ – siehe hierzu auch die reflexiven Nachahmungsversuche durch die Aufklärung: als „gentleman“ beziehungsweise „honette homme“ bis hin zur Überspitzung dieses Ideals im Dandyismus Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts (s. Eco, S. 333 f.).

20 Renz, S. 110.

21 Leakey/Lewin bieten einen Überblick über die bisherigen Deutungsversuche der Höhlenmalerei (S.

313 ff.); nach Reinach und Abbé Breuil handelt es sich dabei um Jagdmagie, hingegen vertritt André

Leroi-Gourhan die Auffassung, hier würden Strukturen der damaligen Gesellschaft dargestellt, insbesondere in der Trennung von Männlich und Weiblich. Die neueste Deutung geht weniger von der Bedeutung, als vielmehr von der Art der Darstellung aus; so finden sich einerseits geometrische Motive, andererseits gegenständliche Darstellungen, und drittens Mischwesen aus Tier und Mensch. Dies wird als neuropsychologische Theorie zusammengedacht mit dem Zustand des menschlichen Geistes in der Halluzination und deren verschiedenen Stadien (Lewis-Williams): „»Es gab Berichte über visuelle Halluzinationen, sehr genaue Beschreibungen«, sagt er. »Den Forschungen zufolge sieht man im frühen Stadium geometrische Formen, zum Beispiel Gitter, Zickzacklinien Punkte, Spiralen und Kurven.« Diese Bilder, insgesamt sechs verschiedene Typen, schimmern weißglühend, lebhaft – und voller Kraft. Solche sogenannten entoptischen Bilder – der Begriff bedeutet »nach innen gesehen« – entstehen durch die grundlegende Struktur der Nervenzellen im menschlichen Gehirn. »Da sie aus dem Nervensystem stammen, sind alle Menschen in bestimmten veränderten Bewusstseinszuständen in der Lage, sie wahrzunehmen, unabhängig vom kulturellen Hintergrund «, sagt Lewis-Williams. Im zweiten Stadium der Halluzination versuchen die Menschen solchen Bildern einen Sinn zu geben. Was dabei herauskommt, hängt von der Kultur und den gegenwärtigen Lebensumständen des einzelnen ab. Eine Reihe von Kurven kann als Hügelkette gedeutet werden, wenn der Betreffende an ländliche Gegenden denkt, oder aber als Wellen, wenn seine Gedanken sich mit Schiffahrt beschäftigen. Die Schamanen der San machen aus Kurvenreihen häufig Bilder von Bienenwaben, denn Bienen sind ein starkes Symbol übernatürlicher Macht, das sich diese Leute zunutze machen, wenn sie in Trance verfallen. Wer von der zweiten in die dritte Phase der Trance gelangt, erlebt oft ein Gefühl wie von einem Strudel oder einem rotierenden Tunnel, und bald darauf stellen sich Halluzinationen von gegenständlichen Bildern ein, nicht nur von Zeichen. »Versuchspersonen aus dem Westen sehen Flugzeuge, Autos, Hunde und andere Tiere, die ihnen vertraut sind«, berichtet Lewis-Williams über Laborexperimente. »Den Schamanen der San erscheinen Antilopen, Raubkatzen und anderes, das zwar bizarr und furchterregend ist, sich aber letztlich aus dem Lebensbereich der San herleitet.« In diesem letzten Stadium kommt es dazu, dass der Betreffende »eine wirklich bizarre Halluzinationenwelt nicht nur sieht, sondern in ihr zu Hause ist«, Jetzt tauchen auch »Monster « auf, die halb Mensch und halb Tier sind.“ Eine solche Deutung hat einiges für sich; zunächst ist es zwar wenig wahrscheinlich, dass ein Schamane im Zustand der Trance fähig ist zu malen oder gar kunstvolle Steinritzungen hervorzubringen, was alles doch eine erhebliche Koordination von Materialien, Werkzeugen und ausführenden Bewegungen erfordert, also rationale Steuerung, die im Zustand der Trance nicht gegeben sein kann. Folglich könnte es sich höchstens um Darstellungen dessen handeln, was der Schamane nach der Trance erinnert, wobei er selbst nicht einmal „ausführender Künstler“ zu sein braucht. Ebenso wie beim Mystiker des Mittelalters, der nach der „unio mystica“ wieder ins normale Alltagsbewusstsein zurückkehrt und seine mystische Erfahrung nur stammelnd wiederzugeben

vermag, könnte es sich hier um Wiedergabeversuche solcher Bewusstseinsinhalte auf mythischer

Ebene handeln, in der sich „mediale“ und rationale Gehalte vermischen.

22 Genau dies leistet die einerseits parallele und signalverarbeitende, andererseits seriell-schichtweise Projektion der Neuronen vom Sinnesorgan zu den Repräsentanz- hin zu den Interpretationsfeldern.

23 Was beweist, wie gering der Abstand selbst – oder gerade?! – vieler „Hochgestellter“ noch heute

von ihren Ahnen ist.

24 Nicht zufällig vereint der Grieche unter dem Begriff téchne die für uns heute völlig verschiedenen

Bedeutungen von Kunst, Kunstfertigkeit, Kunstwerk und Wissenschaft. Die Kenntnis von Regeln und die Einsicht in das Wesentliche machen den Künstler aus im Gegensatz zu unserem modernen Geniekult.

25 B. Schmidt




Literatur

Calvin, William H.: Die Entstehung von Intelligenz, in Spektrum der Wissenschaft, Spezial 3: Leben und Kosmos, S. 70 ff.

Crick, Francis: Was die Seele wirklich ist – Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, Rowohlt TB Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Juni 1997.

Damasio, Antonio R: Descartes‘ Irrtum, Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, dtv, 2. Aufl. 1997.

Damasio, Antonio R.: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstsein, aus dem Englischen von Hainer Kober, Econ Ullstein List Verlag, München 2000.

Demmerling, Christoph und Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Metzler-Verlag, Stuttgart 2007.

Dennett, Daniel C.: Philosophie des menschlichen Bewusstseins, Hoffmann & Campe 1994.

Eco, Umberto: Die Geschichte der Schönheit, dtv, München 2006.

Gardner, Howard: Dem Denken auf der Spur, Klett-Cotta, Stuttgart 1989.

Goleman, Daniel: Emotionale Intelligenz, Deutscher Taschenbuch Verlag 1997.

Leakey, Richard/Lewin, Roger: Der Ursprung des Menschen, Fischer TB, Frankfurt 1998. Masson, Jeffrey M./McCarthy, Susan: Wie Tiere fühlen, Rowohlt TB, Reinbek 1997.

Renz, Ulrich: Schönheit. Eine Wissenschaft für sich, Berlin Verlag, Berlin 2006.

Schmidt, Bernd: Was ist Kunst? Die Kunst der Kunstbetrachtung, Aachen 2008.

Voland, E. und Grammer, K. (Hrsg.): Evolutionary Aesthetics. Springer, Berlin/ Heidelberg/New York 2003.

Vollmer, Gerhard: Auf der Suche nach Ordnung, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1995.

Vollmer, Gerhard: Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1994.

Waal, Frans de: Der gute Affe – Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren, C. Hanser Verlag, München-Wien 1997.

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