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  • AutorenbildDer schwarze Peter

Aristoteles und die Lehre von der gesunden Mitte

Aktualisiert: 22. Okt. 2023

Mit Aristoteles gelassen durch Krisen. Was uns die antike Ethik im Hinblick auf den richtigen Umgang mit Ausnahmesituationen lehrt.


Der Schwarze Peter sitzt zwischen allen Stühlen - wegen Corona. Einer seiner Freunde hält ihn für einen Verschwörungstheoretiker. Warum? Weil er es gewagt hat, seine Sorge um die Freiheitsrechte zum Ausdruck zu bringen.


Ein anderer Freund hält ihn für einen obrigkeitshörigen Büttel. Warum? Weil er nicht gegen staatlich verordnete Corona-Maßnahmen demonstriert. Der Schwarze Peter lässt sich, stur wie er ist, vor keinen ideologischen Karren spannen.


Von zwei Seiten in die Zange genommen, fragt er sich, wo bei seinen gebildeten Freunden die Vernunft geblieben ist. Unser Philosoph hält sich für einen Mann der Mitte. Seine mäßigende Haltung provoziert Menschen, die es in hypernervöse Gefilde verschlagen hat. Das stimmt unseren Philosophen nachdenklich. Apropos Mitte: Er fragt sich, ob die Philosophie zu diesem Begriff Erhellendes in petto hat.


Wenn ihm die Gegenwart die Laune trübt, zieht es den Schwarzen Peter in die griechische Antike. Er schreitet zu seinem Bücherregal, zieht treffsicher ein philosophisches Nachschlagewerk aus dem Regal und wird fündig. Der zweite Schritt auf dem Recherche-Pfad führt ihn zu Aristoteles und dessen Mesotes-Lehre - der Lehre von der „gesunden“ Mitte. Dort hält sich unser Philosoph am liebsten auf, wenn es um gesellschaftspolitische Grundsatzfragen geht.



Die Lehre von der rechten Mitte


Bevor der Schwarze Peter tiefer in die Antike und die Mesotes-Lehre eintaucht, ein paar Worte zur aristotelischen Ethik: Deren Quelle ist die Frage nach der eudaimonia, dem geglückten Leben als Ganzes. Das Leben soll retrospektiv als geglückt betrachtet werden können. Einzelne Glücksempfindungen und das episodische Glück interessieren Aristoteles am Rande.


„Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht einen Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig und glücklich.“ (Aristoteles)

Zurück zur Mesotes-Lehre: Was verbirgt sich hinter diesem geheimnisvoll klingenden Namen? Kurz gesagt, die für das gelungene Leben optimale Zone zwischen zwei schädlichen Extremen (Übermaß/Exzess versus Mangel/Askese). Ähnlich dem Zustand, den ein zur Ruhe gekommenes Pendel einnimmt.


Für Aristoteles stellen die Extreme ungezügelte Begierden dar. Die Mitte (meson) hingegen hält er für eine Tugend, sie zu treffen für erstrebenswert. Wobei dieses Mittlere weder mittelmäßig noch bieder bürgerlich ist. Mesotes ist seine Antwort auf die Frage, wie der Mensch beschaffen sein muss, um einen guten Charakter zu entwickeln und des Glückes würdig zu werden.


Leichter gesagt als getan. Es ist eine Kunst, bei Empfindungen und Handlungen die rechte Mitte zu treffen. Das weiß unser emotional schnell entflammbarer Philosoph aus jahrzehntelanger Erfahrung. Unerreichbar wie eine Fata Morgana, steht ihm der ersehnte Zustand der Ausgeglichenheit und Seelenruhe seit Jahrzehnten vor Augen.


Laut dem Philosophiehistoriker Walther Kranz (1884-1960) kann die Mitte vielgestaltig verfehlt werden. Denn die Extreme sind unbegrenzt. Dem Schwarzen Peter fällt bei diesen Zeilen ein Spruch seiner Mutter ein: „Die Dummheit der Menschen ist unendlich. Die Vernunft, mein Junge, musst Du mit der Lupe suchen“.


Zum Beispiel der Geiz und die Verschwendungssucht: Beide sind zu vermeidende Extreme. Dazwischen tummelt sich auf engem Raum die Großzügigkeit. Sie ist weder ein Zuviel noch ein Zuwenig und damit ein Ausdruck von Vernunft. Es ist leicht, den Geiz ins Unermessliche zu steigern, ebenso die Verschwendungssucht. Schwer ist es, den schmalen Korridor der Großzügigkeit zu treffen. Noch schwerer ist es, diese Haltung zu einer dauerhaften Verfassung werden zu lassen.



Unser Philosoph erinnert sich an die Antike-Vorlesung: Diese Mitte ist keine mathematisch bestimmbare Größe, sondern ein Mittleres in Bezug auf uns und die jeweilige Situation. Es geht um das im jeweiligen Fall Angemessene. Dieses sittliche Handeln soll dem Menschen zur Gewohnheit und zweiten Natur werden.


„Weder der Zufallstreffer noch ein rein instinktives Treffen der Mitte ist Tugend, sondern nur die aufgrund von Vernunftüberlegungen getroffene Entscheidung für das, was als Mitte bestimmt wird.“ (Franz Schupp)

Wozu vernünftig sein?


Unser Philosoph fasst die bisherigen Gedanken zusammen: Das Ziel (telos) jedes Menschen, die eudaimonia, ist die vollkommene Entfaltung als Sinnes- und Vernunftwesen. Die in der Natur des Menschen angelegten Fähigkeiten gilt es zur Entfaltung zu bringen. Ihren sichtbaren Ausdruck findet diese Annahme in Handlungen, die durch gesellschaftlichen Konsens ermittelt werden und dauerhafte Akzeptanz finden. Das Gemeinwesen ist der Maßstab für richtiges Handeln. Für den Antike-Kenner Christoph Horn ist der Tugendbegriff untrennbar mit dem Aspekt sozialer Billigung und moralischer Hochschätzung verbunden. Deshalb erfahren die Extreme, sei es die Gier oder die Tollkühnheit, früher oder später eine gesellschaftliche Ächtung.


Das führt den Schwarzen Peter schnurstracks zum Begriff der Tugend (aretē). Wenn heutzutage von Tugend die Rede ist, dann mit einem altbackenen Beigeschmack („Ein tugendhaftes Mädchen“). Diese Auffassung war Aristoteles fremd. Abgeleitet von agathos, dem Wort für gut oder Gutheit, bezeichnet es den Zustand der Bestheit, in dem sich sowohl Menschen wie auch Gegenstände befinden können.


„Diese Gutheit, die Tugend, lässt sich im Griechischen nicht nur von einem Menschen aussagen, sondern von allem, was eine Funktion oder Aufgabe […] unterschiedlich gut erfüllen kann.“ (Michael Bordt)

Laut dieser Definition kann auch ein Messer tugendhaft sein - nämlich dann, wenn es seine Aufgabe bestmöglich erfüllt. Das heißt, wenn es gut schneidet. Es geht um die funktionale Tauglichkeit eines Gegenstandes.


Wie seine Vorgänger Sokrates und Platon, schätzt Aristoteles Analogien. Im Fall der Tugend stellt er sich die Frage, wie die Erkenntnis vom Messer auf das menschliche Wirken übertragen werden kann.


„So wie das Messer die Aufgabe hat zu schneiden, so hat der Mensch die Aufgabe, sein Leben zu führen.“ (Michael Bordt)

Eine Sache ist in einem guten Zustand, wenn sie ihr jeweiliges ergon auf gute Weise realisiert. Was bitte bedeutet ergon? Langsam wird unserem Philosophen schwindlig vor lauter Begriffen.


„Das Wort ergon bezeichnet die spezifische Funktion, Aufgabe oder Leistung einer Sache.“ (Christoph Rapp)

Beim Messer ist die Funktion - und damit das ergon - klar. Wie sieht es beim Menschen aus? Wann ist er im bestmöglichen Zustand?


Aristoteles beantwortet diese Frage mit Blick auf die verschiedenen Lebensformen. Ernährung und Wachstum ist keine spezifisch menschliche Leistung. Sie kommt sämtlichen Lebewesen und Pflanzen zu. Die Sinneswahrnehmung? Viele andere Lebewesen verfügen auch über diese Fähigkeit. Das gesuchte ergon muss ein anderes sein. Es bleibt, als Drittes, eine Fähigkeit, die den Menschen von allen anderen Lebensformen unterscheidet und ihn exklusiv auszeichnet: die Fähigkeit zu denken. Das führt Aristoteles zu der Erkenntnis: das ergon des Menschen ist ein von Vernunft gesteuertes Leben.


Wenn es der Mensch schafft, seine Begierden durch die Vernunft zu zügeln, ist er in seinem Bestzustand. Der Mensch soll vernünftig handeln, weil es seiner Natur entspricht. Aristoteles geht es nicht um das für Menschen kaum erreichbare Ideal der Emotionslosigkeit. Der Mensch kann aber zu Emotionen wie Zorn oder Furcht Stellung beziehen und diese in ihrer Angemessenheit kritisch hinterfragen. Mittels der Vernunft kann er die für ihn richtige Mitte anstreben.



Was hat das mit Corona und den Freunden zu tun?


Unser Philosoph erinnert sich an die besagten Gespräche mit seinen Freunden und deren emotionalen Ausnahmezustand. Sie machten keinen glücklichen Eindruck. Selbst wenn sie es nicht zugeben - sie hatten Angst. Der eine vor dem Virus, der andere vor einem paternalistischen Überwachungsstaat. So unterschiedlich die Sorgen der beiden sind, es gibt etwas, das sie verbindet: Sie haben sich von der tugendhaften, vernunftgeprägten Mitte (der Besonnenheit) hin zu den Extremen Furcht und Misstrauen ziehen lassen.


Die Ethik von Aristoteles ist ein


„durch Konsens gedeckter Ausgangspunkt, der vor jedem Fanatismus schützt und keinerlei Möglichkeit gibt, Menschen durch Wertabsolutismus zu vergewaltigen.“ (Franz Schupp)

Anmerkung des Herausgebers: Dass der Schwarze Peter über die harmonische Mitte und damit über eine Form der Seelenruhe schreibt, lässt Freunde mit den Achseln zucken. Entgegen aller philosophischen Erörterungen hält er sich bei fast allem, was er anpackt, in den Extrembereichen auf. Entsprechende Hinweise wiegelt er nonchalant mit dem alten Psychologen-Motto „Der Wegweiser geht nicht den Weg“ ab.






Literatur

Aristoteles: Nikomachische Ethik, 4. Auflage, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg 2013.

Horn, Christoph: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, 3. Auflage, Verlag C.H. Beck, München 2014.

Kranz, Walther: Die Griechische Philosophie. Zugleich eine Einführung in die Philosophie überhaupt, Verlag Schibli-Doppler, Basel 1955.

Rapp, Christoph: Aristoteles zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 2001

Schupp, Franz: Geschichte der Philosophie im Überblick, Band 1 Antike, Felix Meiner Verlag, Jokers Edition, Augsburg 2012.




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