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Über den Wert der Freiheit in Zeiten von Corona

Aktualisiert: 22. Aug. 2020

Würden Sie langfristig Ihre Freiheitsrechte für mehr Sicherheit opfern?


Wehe, Sie lassen sich derzeit in einer Kirche blicken oder kommen einer fremden Person zu nahe - also näher als zwei Meter. Reisen dürfen Sie noch - in der Phantasie. Es bleibt Ihnen ein wohliges Wünschen und Planen für die Zeit nach Corona. Immerhin, wenn Sie einen Hund besitzen, müssen Sie sich keine bohrenden Fragen nach dem Grund Ihres Spaziergangs gefallen lassen. Es ist offensichtlich: unseren Freiheitsrechten geht es nicht gut. Der Virus hat sie nicht verschont. Obwohl grundgesetzlich verankert, wurden viele Bürgerrechte auf unabsehbare Zeit ausgesetzt oder massiv eingeschränkt. Damit ist einem 125 Nanometer großen Virus in wenigen Wochen gelungen, woran sich Demokratieverächter seit 70 Jahren erfolglos abarbeiten.

Das lässt die Bevölkerung nicht mit sich machen, oder? Tut sie - und zwar ohne aufzumucken. Viele fordern gar eine Verlängerung oder Verschärfung der Einschränkungen. Fast könnte man meinen, der Souverän, also der Bürger, ist erleichtert, in die Rolle des kritiklosen Untertanen schlüpfen zu dürfen. Verängstigt sucht er unter den breiten Flügeln der Obrigkeit Schutz. So viel Unterwerfungsbereitschaft gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie. Der Journalist Thomas Petersen zeigt sich nachdenklich. Er ist der Ansicht, dass die Bürger in dieser Krise zeigen, dass sie den Entzug von Grundrechten nicht nur tolerieren, sondern ihn sogar belohnen, wenn der Anlass zur Furcht einflößend genug ist. Der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann sieht diese Schicksalsergebenheit ebenfalls mit Sorge:

„Wenn man wissen will, wie es sich - einschließlich der leeren Regale bei gewissen Hygieneartikeln - anfühlt, in Nordkorea aufzuwachen, wäre jetzt die Gelegenheit, sich davon […] eine Vorstellung zu verschaffen.“

Blicken wir ins Jahr 1975: der poststrukturalistische französische Philosoph Michel Foucault skizziert unter Bezugnahme auf die Pest-Quarantänehäuser des 17. Jahrhunderts eine von Fremdbestimmung geprägte Welt:

„Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringste Bewegung kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden […] jedes Individuum ständig erfasst, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird - dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.“ (Michel Foucault)

Derart drastisch sind die in Deutschland wegen Corona beschlossenen Maßnahmen nicht. Weder in ihrer Dimension noch in ihrer Bedrohlichkeit. Aber sie verdeutlichen einer individualistisch und hedonistisch orientierten Gesellschaft die Verwundbarkeit des gewohnten Lebensstils. Wo Schatten ist, muss irgendwo ein Licht sein: Durch den Verlust der Freiheit ist der Begriff der Freiheit nach langer Pause breitenwirksam in den Fokus gerückt.

Wovon ist die Rede, wenn wir von Freiheit sprechen? Die Menschheit hat laut Peter Bieri Worte erfunden, die in gewöhnlichen Zusammenhängen als etwas Selbstverständliches zur Verfügung stehen. Das gilt auch für den Begriff Freiheit, der bis vor Kurzem inflationär verwendet, aber selten hinterfragt wurde.

„Doch manchmal geschieht es, dass wir genauer wissen möchten, wovon wir eigentlich reden, weil Wichtiges auf dem Spiel steht, sowohl im Verstehen als auch im Handeln.“ (Peter Bieri)

Im Moment ist die Freiheit ein Ladenhüter. Toilettenpapier und körperliche Unversehrtheit sind den Menschen wichtiger. Wenn die Angst groß genug ist, wollen die Menschen Verbote (Richard David Precht). Trotzdem, die persönliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheit sind zwei der größten zivilisatorischen Errungenschaften. Deshalb wollen wir dem Überbegriff der Freiheit eine Kontur geben. Peter Bieri, auch bekannt unter seinem Pseudonym Pascal Mercier, wird uns neben weiteren Philosophen dabei helfen.

Spätestens seit Sokrates, Platon und Aristoteles wissen wir, dass der Mensch im Gegensatz zu anderen Lebewesen nicht ausschließlich von der Natur bestimmt ist. Er kann „aus sich heraustreten“ und eine reflektierende Distanz zu sich einnehmen. Im Bewusstsein dieses Vermögens erlebt sich der Mensch als selbständig und mündig…so die Theorie. Damit verbunden ist ein Streben nach Freiheit. Der Mensch möchte seine Talente ungestört zur Entfaltung bringen. In normalen Zeiten herrscht deshalb ein tiefes Misstrauen gegen direkte staatliche Einmischung in die private Lebensführung (John Stuart Mill, 1806 - 1873). Eine Regierung, die den Bürger wie aus einem Adlerhorst heraus im Auge hat, ist ein Schreckensszenario. Umso schwerer wiegen die wegen Corona beschlossenen Maßnahmen.

Jede Einschränkung der Freiheit nagt am Fundament der Autonomie. Als wäre das nicht schmerzhaft genug, kann die Erfahrung von Ohnmacht gegenüber einer Autorität eine Demütigung darstellen. Im Extremfall wird die Würde beschädigt.

„Wo ist denn nun die gerechte Grenze für die Herrschaft des Individuums über sich selbst? Und wo beginnt die Autorität der Gesellschaft?“ (J. S. Mill)

Diese Frage hat sich Mill in seinem Werk „Über die Freiheit“ gestellt und freundlicherweise fünf Sätze später beantwortet:

„Die Tatsache, dass man in Gesellschaft lebt, macht es jedem unbedingt zur Pflicht, eine bestimmte Linie des Benehmens gegen die anderen einzuhalten.“

Aber:

„Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich.“ (J. S. Mill)

Dem kann man zustimmen. Frei nach dem englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588 – 1679) muss sich jeder Einzelne mit dem Maß an Freiheit begnügen, welches er seinen Mitmenschen zugesteht. Ein vernünftiger Gedanke, der in unzähligen Varianten durch die Philosophiegeschichte geistert. Leider ist der Mensch, obwohl vernunftbegabt, aus einem so krummen Holz gemacht, dass niemals etwas Gerades daraus gezimmert werden kann (Immanuel Kant, 1724 – 1804). Deshalb funktioniert eine Gesellschaft nur, indem sie sich allgemeine Regeln des Zusammenlebens gibt. In Gesetze gegossen bilden diese einen Schutzwall gegen behördliche oder private Willkür. Denn

„[w]er Rechte hat, kann Ansprüche geltend machen: Er muss nicht darum bitten, dass er etwas darf […]. Er ist auf niemandes Wohlwollen angewiesen.“ (Peter Bieri)

Die Kehrseite der Medaille: Das Recht, auf das ich mich berufe, schränkt den anderen in seiner Freiheit ein. Als Ausdruck eines Ordnungsprinzips stellt jedes Gesetz zugleich eine Bevormundung dar. Ist diese Tatsache für den Einzelnen demütigend oder gar eine Gefahr für dessen Würde?

„Ob sie es tut, hängt davon ab, wer uns die Autorität und Selbständigkeit wegnimmt und aus welchen Gründen.“ (Peter Bieri)

„Wenn wir diese Dinge akzeptieren, dann deshalb, weil sie insgesamt das Ziel haben unsere Würde zu schützen.“ (Peter Bieri)

Das Tauschgeschäft ist schnell erklärt. Ein Teil der individuellen Freiheit wird für ein Mehr an Sicherheit geopfert. Einem Schieberegler ähnlich, der je nach situativer Gewichtung an einer bestimmten Stelle zwischen den Extremen Freiheit und Sicherheit (i.e. Gesundheitsschutz) positioniert wird. Der Mensch sucht freie Entfaltung in der Gesellschaft. Freiheit und Sicherheit sind hohe Güter, die fallweise gesellschaftlich austariert und in Balance gehalten werden müssen.

„Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ (Wolfgang Schäuble, Deutscher Bundestagspräsident)

Innerhalb des, durch Gesetze bestimmten, Spielfeldes kann sich jeder Bürger austoben. Was er nicht kann, ist, sich ungehindert und ungestraft über diese Grenzen hinaus auf Kosten anderer auszuleben. Das ist in Anlehnung an Kant die Bedingung der Möglichkeit für Freiheit. Anders ausgedrückt: Menschliche Freiheit ist endliche Freiheit. Der Mensch ist nicht frei von Bedingungen. Aber er ist frei, zu ihnen Stellung zu beziehen. Er kann sich von seinen Bedenken distanzieren und sie trotzdem ernst nehmen. (Viktor E. Frankl, 1905 – 1997)

„Die Formel ist: Freiheit opfern für das Gemeinwohl, das auch gut ist für den Einzelnen.“ (Peter Bieri)

Dieser gesellschaftlichen Übereinkunft hat man sich qua Geburt ungefragt zu unterwerfen.

Corona zeigt eindrücklich eine potentielle Bruchstelle des Systems. Je größer die Krise, desto stärker der Reflex und die Versuchung der Regierenden, die Freiheitsrechte über das notwendige Maß hinaus einzuschränken. Desto größer auch die Bereitschaft der Bürger, dieser Erosion der Grundrechte tatenlos zuzusehen. Ist die Würde des Einzelnen in Gefahr? Peter Bieri kann uns beruhigen: Wenn die Einschränkungen zeitlich begrenzt sind und der Nutzen nachvollziehbar kommuniziert wird, ist die Würde des Subjekts nicht gefährdet. Denn

„[d]ie Garantie der Würde ist die Transparenz der Ziele.“ (Peter Bieri)

Es geht um Ziele, denen die Mehrheit der Bürger im Interesse des Fortbestands der Gemeinschaft zustimmen können. Mit Kants Worten:

„Im sittlichen Wollen setzen wir uns in eine ideale Gemeinschaft mit anderen Vernunftwesen, in ein ‚Reich der Zwecke‘.“

Der zu verwirklichende Zweck ist die Eindämmung der Pandemie. Eine bitter schmeckende Medizin auf diesem Weg ist die Mixtur aus freiwilligem und erzwungenem Verzicht auf einen Teil der Autonomie. Aber selbst einem Libertären kann diese Komforteinbuße für begrenzte Zeit zugemutet werden. Zumindest, wenn er nicht das Gefühl hat, willkürlich bevormundet zu werden, sondern die Politik als ausführenden Arm eines gemeinsamen gesellschaftlichen Interesses sieht (Hartmut Rosa, Soziologe). Der Bürger hat das Recht, von seinen stattlichen Interessenvertretern umfassend und transparent informiert zu werden.

„Wenn man uns diesen Anspruch streitig macht, indem man uns gängelt und Dinge über unseren Kopf hinweg entscheidet, dann fühlen wir uns entmündigt und bevormundet.“ (Peter Bieri)

Noch nimmt die Bevölkerung den Verlust von Freiheitsrechten erstaunlich gelassen hin. Die Stimmen, die im Anschluss an die Gesundheitskrise einen Demokratienotstand erwarten, werden jedoch lauter. Kritische Geister sehen die Freiheit durch ein zu hohes Maß an Staatsgläubigkeit gefährdet. Werden die aktuellen Einschränkungen der Freiheit im Anschluss an die Pandemie vollständig verschwinden oder werden sie mit anderer Begründung auf Dauer eingerichtet (Wilhelm Heitmeyer, Soziologe)? Damit stellt sich sofort die für eine freiheitliche Gesellschaft zentrale Frage: Wie wollen wir leben? Wenn Freiheit mehr ist als Luxus, muss die Demokratie verhindern, dass durch die Krise das Autoritäre über das zeitlich und inhaltlich notwendige Maß hinauswächst und sich etabliert. Es darf keine Herden-Immunisierung gegenüber Demokratie gefährdenden Tendenzen geben. Dafür ist die Freiheit als Quelle künstlerisch und unternehmerisch kreativen Schaffens zu bedeutsam.

„In der Freiheit ist zwar das Verderben groß, das völlige Verderben möglich. Ohne Freiheit aber ist das Verderben gewiss.“ (Karl Jaspers, 1883 – 1969)

Das Schlusswort hat Benjamin Franklin (1706 – 1790), Erfinder des Blitzableiters und Gründervater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung:

„Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety.“

Literatur

Bieri, Peter: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, 2. Auflage, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2015.

Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, 10. Auflage, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011.

Eisler, Rudolf: Kant Lexikon, Weidmannsche Verlagsbuchhandlung, Berlin 2008.

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 10. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992.

Frankl, Viktor E.: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, 24. Auflage, Piper Verlag, München 2011.

Franklin, Benjamin: Pennsylvania Assembly: Reply to the Governor. Printed in Votes and Proceedings of the House of Representatives, 1755-1756, S. 19-21, http://franklinpapers.org/framedVolumes.jsp?vol=6&page=238a (Stand 21.04.2020).

Hobbes, Thomas: Leviathan, Reclam, Stuttgart 1970.

Jaspers, Karl: Kleine Schule des philosophischen Denkens, Tausend Verlag, München 1965.

Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube, 6. Auflage, Tausend Verlag, München 1948.

Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek, Hamburg 2003.

Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, Reclam, Stuttgart 1990.

Mill, John Stuart: Über die Freiheit, Reclam, Stuttgart 2017.

Petersen, Thomas: Viele Deutsche sind zum Verzicht auf Freiheiten bereit, Artikel in FAZ Online vom 23.04.2020: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/allensbach-umfrage-gefahr-fuer-die-freiheit-16738195.html?premium#void (Stand 23.04.2020).

Schäuble, Wolfgang: Schäuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen, Artikel Der Tagesspiegel Online vom 26.04.2020: https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-will-dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html (Stand 27.04.2020).

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