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Hegels Dialektik und die KI

Autorenbild: fowlersbayfowlersbay

Die Wirklichkeit von innen heraus verstehen und systematisch in ihrer Gänze beschreiben. Das ist der monumentale Anspruch, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) an sich und die Philosophie stellt. Wer träumt – frei nach Goethe – nicht davon, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält?


Hegels Philosophie ist hochkomplex, seine Sprache obskur und anstrengend. Dafür gehört er zu den wenigen Philosophen, die eine vollständige Theorie geschaffen haben. Wer sich einlässt, braucht Ausdauer, denn die Auseinandersetzung mit Ausschnitten seiner Theorie führt zu thematischen Ausweitungen, die erst in der ganzen Fülle seines Denkens ihre Grenze finden.

 

Aber: Vielleicht kann Hegel am Ende unseres Beitrags Erhellendes zum Thema künstliche Intelligenz (KI) beisteuern.

 

 

Mit Gegensätzen zur Erkenntnis

 

Den Prozess, der die umfassende Erkenntnis der Wirklichkeit ermöglichen soll, nennt Hegel Dialektik. Bei dieser logischen Operation handelt es sich um ein geistiges Fortschreiten und Werden, das vom jeweils Gegensätzlichen in Bewegung gehalten wird. Bei diesem Spiel der Gegensätze durch deren schrittweises Zusammenfassen erfolgt der Aufstieg zu höherer Erkenntnisse und – im Idealfall – zur allumfassenden Wahrheit.

 

Hegels Dialektik erinnert an Platons sokratische Dialoge und dessen Kunst der Unterredung (dialektike techne).

 

„Somit ist Dialektik am besten zu übersetzen mit ‚Methode von Rede und Widerspruch‘, einem Abwägen von Pro und Contra, um zu einer weiterführenden Aussage zu gelangen.“ (Ralf Ludwig)

 

Hegels Idee von der Auflösung der Widersprüche und der Versöhnung von Gegensätzen findet sich in grob modellierter Form bereits bei Heraklit (ca. 520-460 v. Chr.):

 

„Gott ist Tag und Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger […].“ (Heraklit)

 

Wer bei Hegels Dialektik an den berühmten Dreischritt These –> Antithese –> Synthese denkt, ist versehentlich bei Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) gelandet. Hegel ist von dessen Denken und Terminologie beeinflusst, versteht unter Dialektik aber mehr als einen universalen Formalismus, der sich mittels dreier Begriffe in ein sprachliches Korsett zwängen lässt. Allerdings hat sich Fichtes einprägsamer Dreischritt bei Hegel-Exegeten etabliert.

 

Eine Diktatur (These) weckt bei den Unterdrückten den Wunsch nach dem Gegensätzlichen, nach Freiheit (Antithese). Eine funktionierende Gesetzgebung wäre die Verbindung (Synthese) der beiden Gegensätze.

 

Für Hegel ist die dialektische Denkbewegung ein notwendiges Instrumentarium vernünftigen Denkens. Jeder Begriff (These) trägt die Dimension des Anderen, d. h. des verneinenden Gegensatzes (Antithese) in sich. Sowohl die These als die Antithese gehen in der Synthese auf und verlieren ihren gegensätzlichen Charakter (Störig). Sie verändern sich in quantitativer und/oder qualitativer Hinsicht (z. B. Samenkorn <–> Knospe).

 

 

Wir heben alles auf


Die Gegensätze und Widersprüche werden durch die Synthese in dreifacher Hinsicht aufgehoben… und zwar im Sinne von:

 

  1. beseitigt (ein Urteil wird aufgehoben)

  2. bewahrt (einen Gegenstand nicht entsorgen, sondern aufheben)

  3. hinaufgehoben (auf eine höhere Ebene befördern)

 

Die Auf-hebung führt zur Synthese, die durch eine weitere Setzung des Gegensätzlichen zur These 2 wird. Damit weist jede Erscheinung schon auf ihren Gegensatz hin.



Von der ersten These zum absoluten Geist


Dialektik ist eine Methode des Begreifens und führt zu Hegels Annahme einer unendlichen Weltseele (Weltgeist) als Inbegriff der Welt als Ganzes, d. h. der Realität.


Der Begriff „Geist“ oder „Weltseele“ ist – wie alles bei Hegel – verwirrend. Wichtig ist die Grundannahme, dass es einen von Vernunft durchzogenen Endzweck in der Weltgeschichte gibt. Hegels Philosophie ist somit zutiefst teleologisch.

 

Hegels dialektische Philosophie basiert auf der Annahme, dass der gesamte Weltenlauf ein Selbstentfaltungsprozess des Geistes, also der universalen und individuellen Vernunft, ist. Entsprechend dem dialektischen Gesetz erfolgt diese Selbstentfaltung in drei Stufen (Störig).

 

  1. Der Weltgeist (Weltseele, absoluter Geist) befindet sich im Zustand des An-sich-Seins (wer mag, kann es These nennen). Die Philosophie betrachtet diesen Zustand mit Hilfe der Logik.


  2. Der Weltgeist wechselt in den Zustand der „Entäußerung“ („Selbstentfremdung“) ins Endliche, d. h. in die Form der an Raum und Zeit gebundenen Natur. Hegel nennt diesen Zustand das Anders-Sein (Antihese).


  3. Der Weltgeist kehrt aus der Selbstentäußerung zu sich zurück und befindet sich damit im Zustand des An-und-für-sich-Seins (Synthese).

 

Diesen Dreischritt vollzieht Hegel mit jedem neuen Begriff, um beim höchsten, dem absoluten Geist (der allumfassenden Vernunft) zu landen.

 

 

Hegel und die Moral


Die Sphäre der Sittlichkeit beginnt für Hegel erst beim objektiven Geist (Familie, Gesellschaft, Staat und Geschichte).

 

„Sinn und Wert hat das Dasein des Einzelnen nicht an sich selbst, sondern erst in seiner Ein- und Unterordnung unter die überpersönlichen, geschichtlichen Mächte, vor allem den Staat.“ (Störig)

 

Nach Hegel handelt der Weltgeist durch den Einzelnen als sein Werkzeug. Selbst die bedeutendsten historischen Persönlichkeiten (Napoleon als Weltseele zu Pferde) waren sich ihrer reinen Funktionalität nicht bewusst. Anders ausgedrückt: Sie haben das Weltgeschehen lediglich als verlängerter Arm und Handlanger des Weltgeistes geprägt.

 

 

Der Mensch – ein nützliches Vehikel?


Hegel sah weder die nach ihm einsetzende Industrialisierung noch das Aufkommen künstlicher Intelligenz voraus. Dennoch können wir dank ihm diese geschichtlich bedeutsamen Entwicklungen besser verstehen.  

 

„Mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz wird der Mensch Gott – und schafft sich zugleich einen neuen Gott.“ (Roberto Simanowski)

 

Simanowski glaubt, dass die künstliche Intelligenz in naher Zukunft klüger sein wird als der Mensch. Deshalb wird der Mensch das Denken und Entscheiden der KI überlassen und ins Paradies zurückkehren… in die Zeit vor dem Sündenfall, als er sein Leben noch nicht selbst leben musste.

 

Diese Heimkehr ins Paradies ist für Hegel zugleich die Heimkehr des absoluten Geistes (der Weltseele) zu sich selbst. Dieser erkennt sich erst über die Menschen und deren Erforschung der Natur und Selbsterkundung. Im Zeitalter der Digitalisierung geschieht das in hohem Maße unter Zuhilfenahme des Internets.

 

„Die künstliche Intelligenz ist der absolute Geist auf höchster Prozessstufe, Selbsterkenntnis in Echtzeit." (Roberto Simanowski)

 

Was bleibt ist die beunruhigende Vorstellung, dass der Mensch lediglich ein Vehikel, ein Zwischenwirt auf dem Weg zum Posthumanismus und zur absoluten Vernunft sein könnte.




Literatur

Brugger, Walter: Philosophisches Wörterbuch, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1976.

Buckingham, Will: Das Philosophie-Buch, Dorling Kindersley, London 2011.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Werke 18, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986.

Heraklit: Fragmente, 14. Auflage, Artemis & Winkler Verlag, Zürich 2007.

Ludwig, Ralf: Hegel für Anfänger. Phänomenologie des Geistes, 5. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006.

Simanowski, Roberto: Hegel und künstliche Intelligenz, Deutschlandfunk Kultur vom 27.08.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/hegel-und-kuenstliche-intelligenz-der-mensch-erschafft-100.html (abgerufen am 14.01.2025).

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 6. Auflage, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.

Nicola, Ubaldo: Bildatlas Philosophie. Die abendländische Ideengeschichte in Bildern, Parthas Verlag, Berlin 2007.

 

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