top of page
  • AutorenbildDer schwarze Peter

Hybris: Der süß-saure Wahn

Aktualisiert: 24. Dez. 2020

"Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle." Bevor es soweit ist, legt unser Philosoph ein Geständnis ab: Er fährt gerne Porsche. Zwar nur einen 15 Jahre alten Boxster, aber das ändert nichts daran, dass er mächtig stolz ist. Vor allem, wenn er einem Allerwelts-Cabrio begegnet. An diesem flüchtigen Überlegenheitsgefühl ist nichts verwerflich, oder? Wenn einer seiner besten Freunde recht hat, ist es ein klarer Fall von Hybris.


Schade, dass dieses wohlklingende Wort einen negativen Beigeschmack hat. Es steht für abstoßende Charaktereigenschaften wie Hochmut und Selbstüberschätzung - begleitet von einer Prise Realitätsverlust. All das trifft auf den Schwarzen Peter hoffentlich nicht zu. Aber er fragt sich, ob er mit seiner moderaten Form der Hybris den Keim für Größeres und Verderblicheres in sich trägt? Muss er sich Sorgen machen?


Bis zu dem Kommentar seines Freundes hatte er das Thema Hybris nicht auf dem Schirm - jedenfalls nicht als ein philosophisch relevantes. Tröstlich, dass er damit nicht alleine ist. Seines Wissens hat sich ein zeitgenössischer Philosoph, Karl Popper (1902 - 1994), näher damit beschäftigt. Von dem stammt übrigens der einleitende Satz dieses Beitrags.


Zum Zweck der Recherche und als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk gönnt sich unser Philosoph Poppers sozialethisches Standardwerk Das Elend des Historizismus (1957). Neben zeitlos aktuellen Gedanken zur Hybris und Geschichtsphilosophie beeindruckt es durch eine schnörkellose Ausdrucksweise. Popper präsentiert seine Theorien ohne elitären Dünkel in „einfachem Deutsch“ (Philipp Hübl). Wer Adorno und Habermas gelesen hat, wird diese Einfachheit schätzen.


Sprachliche Klarheit hin oder her, unser Philosoph fragt sich, wie er von seiner Porsche-Hybris zu Poppers gesellschaftlichen Dimensionen gelangt.



Wissen ist vorläufig und widerlegbar


Um Poppers Gedanken zur Hybris nachzuvollziehen, bedarf es eines Exkurses in dessen Wissenschaftstheorie. Worum geht es dabei? Kurz gesagt, um die Frage, was Wissenschaft ist, wie sie funktioniert und was sie erkennt. Popper geht von einem Realismus des Alltagsverstandes aus. Die Welt ist keine Illusion. In ihr tummeln sich Menschen, Tiere und Pflanzen. Sie ist beobachtbar und beschreibbar.


Das führt zu Poppers philosophischem Nummer-eins-Hit und großem Vermächtnis: dem (hypothetischen) Falsifikationismus. Wer wegen dieses Zungenbrechers empört „Geht’s noch?“ ausruft, der möge sich beruhigen. Des Pudels Kern ist schnell erklärt: Jedes durch Erfahrung gewonnene Wissen ist vorläufig und widerlegbar. Der Clou ist, dass Popper die wissenschaftliche Tauglichkeit von Induktion leugnet. Was bitte bedeutet Induktion? Es handelt sich um den Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, auf Naturgesetze. Beispiel gefällig?



Von weißen Raben und schwarzen Schwänen


Unser Philosoph beobachtet seit Jahrzehnten schwarze Raben. Das führt ihn zu der Annahme, dass alle Raben schwarz sind (= Hypothese). Aber: Auf der Welt kann unbemerkt ein weißer Rabe existieren.


„Noch so viele ‚induktive‘ Bestätigungen können niemals eine Theorie als uneingeschränkt wahr erweisen.“ (Störig)

Es wird dem Schwarzen Peter nicht gelingen, alle Raben dieser Welt zu treffen, was bedeutet, dass er nicht sicher sein kann. Es ist ihm unmöglich, seine Hypothese auf empirischem Weg zu verifizieren, d. h. zu beweisen. Sie kann jedoch widerlegt (falsifiziert) werden. Nämlich dann, wenn jemand einen weißen Raben entdeckt. Das ist übrigens mit den schwarzen Schwänen passiert.



Ein Grund für Demut


Popper behauptet, dass alle Theorien und Naturgesetze Vermutungen oder vorläufige Hypothesen sind. Sie gelten, bis sie von neuen Erkenntnissen überholt werden. Mit Störigs Worten: Alles Wissen hat provisorischen und hypothetischen Charakter.


„Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen. […] Selbst wenn es einem einst glückt; die vollkommenste Wahrheit zu künden, wissen kann er sie nie: Es ist alles durchwebt von Vermutung.“ (Xenophon, übersetzt von Karl Popper)

Angesichts dieser Zeilen überkommt unseren Philosophen ein Gefühl von Demut. Was ist Demut anderes, als die Antipode zur Hybris? Er spürt, dass die Richtung, die er eingeschlagen hat, stimmt. Bevor er sich wegen Themaverfehlung ein „Sechs, setzen!“ einhandelt, erfolgt ein beherzter Sprung von Poppers Erkenntnistheorie zu dessen politischer Ethik und der Hybris.



Bühne frei für die Hybris


Unser Philosoph hat sich damit abgefunden, dass ihm wissenschaftliche Gewissheit versagt bleibt. Auch das ist eine wertvolle Erkenntnis. Poppers wissenschaftstheoretische These, der zufolge jedes Wissen vorläufig ist, ergänzt der Schwarze Peter um „Behaupte niemals, im Vollbesitz der Wahrheit zu sein“. Damit kommt man der Hybris bedenklich nahe.

Karl Popper überträgt seine wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse kurzerhand auf die Sozialethik. Die Grundthese des Buches Vom Elend des Historizismus ist,


„dass die Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit der reinste Aberglaube ist und bleibt, wie sehr sie sich auch als ‚wissenschaftlich‘ gebärden mag, und dass man den Lauf der Geschichte nicht rational voraussagen kann.“ (Popper)

Unser Philosoph überlegt, was das bedeutet. Poppers Kritik zielt auf die Marx’sche Vorstellung einer Weltrevolution, in der das Proletariat die Macht übernimmt und das Privateigentum an Produktionsmitteln abschafft. Eine behutsame und schrittweise Entwicklung der Gesellschaft hin zu besseren Verhältnissen hatte Karl Marx (1818 - 1883) nicht im Sinn. Die Veränderung sollte sprunghaft und ideologisch umfassend sein.


Marx glaubte, die grundlegenden Gesetze der historischen Entwicklung zu kennen und zuverlässige Aussagen über die zukünftige Entwicklung machen zu können. Ein klarer Fall von fortgeschrittener Hybris - und Historizismus in Reinform. Gefährlich wird es, wenn daraus als unfehlbar geltende Anweisungen für richtiges politisches und soziales Handeln abgeleitet werden:


„Diese Auffassung beherrscht […] einen großen Teil der abendländischen Geistesgeschichte, sei es, dass der offenbarte Wille Gottes, der Sieg der auserwählten Rasse […] und/oder zwangsläufige sozialökonomische Prozesse den Fortgang und Ausgang der Geschichte bestimmen sollen.“ (Störig)

Popper plädiert hingegen für eine Vorgehensweise analog zu seiner Wissenschaftstheorie. Er bevorzugt eine von Vernunft gesteuerte gesellschaftliche Weiterentwicklung, bei der einzelne Schritte reflektiert und dem jeweiligen Erkenntnisstand angepasst werden. Das entspricht nicht dem, von Hybris und einem Mangel an Selbstkritik geprägten, revolutionären Selbstverständnis.


Popper versucht, jene „weit verzweigten Zusammenhänge zu erfassen und darzulegen, die zwischen der historizistischen und der utopischen Einstellung bestehen - dem Traum, das Himmelreich hier auf Erden zu verwirklichen.“ (Popper)


Er spricht den marxistischen „Weltverbesserern“ nicht den guten Willen ab. Er unterstellt aber einen Mangel an Vernunft. Deren utopischer Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, ist ein Irrlicht und führt - Originalton Popper - in den Sumpf. Die Richtigkeit des Spruches „Gut gemeint ist das Gegenteil von Gut“ hat sich mit Blick auf die vielen Beispiele totalitärer Plan- und Misswirtschaft bestätigt. Trotzdem haben gesellschaftliche Umsturzphantasien Konjunktur. Der Schwarze Peter sieht totalitaristische Tendenzen aktuell bei extremen Parteien jeglicher Couleur und manchen NGOs.



Was uns immer wieder in Versuchung führt


Es ist die Hybris als Ausdruck einer anmaßenden Wissenschafts- oder Selbstgläubigkeit, die das Gute will und stets das Böse schafft. Sie verwandelt die Erde in eine Hölle, „wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können.“ (Popper)


„Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltbeglückung aufgeben.“ (Popper)

Ist das als Aufforderung zu verstehen, unser Streben nach einer lebenswerteren Welt aufzugeben? Nein, wir können und sollen Weltverbesserer sein - aber bescheidene Weltverbesserer.


„Wir müssen uns bei der nie endenden Aufgabe begnügen, Leiden zu lindern, vermeidbare Übel zu bekämpfen, Missstände abzustellen; immer eingedenk der unvermeidbaren ungewollten Folgen unseres Eingreifens, die wir nie ganz voraussehen können.“ (Popper)

Wer das ignoriert, hat Anteil daran, dass sich die Bilanz der Verbesserungen in eine Passivbilanz wandelt.


Es gilt, bei wissenschaftlichen und sozialen Fragen eine kritische Haltung zu bewahren, aus Fehlern zu lernen und Fehlerkorrekturen zuzulassen. Popper nennt es das Prinzip der dauernden Fehlerkorrektur. Etwas geschwollener ausgedrückt: der Kritische Rationalismus. Er sieht darin nicht nur eine Weisheitsregel, sondern eine moralische Pflicht - und zwar zur dauernden Selbsthinterfragung und Verbesserung unserer Urteile.


"Wir können aus unseren Fehlern lernen; darum ist es unsere Pflicht, aus unseren Fehlern zu lernen." (Popper)

Er warnt vor geistigem Verbarrikadieren und der Immunisierung gegenüber vernünftigen Argumenten. Kompromisslose Weltverbesserungs-Ideologien, die mit einem moralischen Überlegenheitsgefühl auf eine radikale Umwälzung der bestehenden Verhältnisse abzielen, sind ihm suspekt. Sie sind ein Zeichen von Hybris, die mit einem Mangel an Selbstkritik einher geht.


Das Glück aller mit menschenverachtenden Mitteln und Ideologien verwirklichen zu wollen, ist Hochmut und Verantwortungslosigkeit - selbst dann, wenn es von den besten Absichten geleitet wird.


„Jeder Versuch, ein endgültiges oder totales Konzept für die menschliche Gesellschaft zu entwerfen und zu realisieren, ist verwerflich; er muss scheitern, ja zum Verlust der Freiheit führen.“ (Störig)


Was hat das mit unserem Philosophen zu tun?


Seiner Meinung nach wenig bis gar nichts. Zugegeben, Hybris ist eine unschöne Sache. Aber unser Philosoph fühlt sich nicht angesprochen… für zu banal hält er seinen Porsche-Spleen. Nebenbei gesagt: Es ist sein einziges materielles Laster.


Anders ausgedrückt: Bevor der Porsche weicht, kommt der Kühlschrank aus dem Haus. Gönnen wir dem ansonsten genügsamen Philosophen sein Hobby.






Literatur

Hübl, Philipp: Folge dem weißen Kaninchen… in die Welt der Philosophie, 8. Auflage, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg 2003.

Popper, Karl: Das Elend des Historizismus, 7. Auflage, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 1980.

Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 6. Auflage, UTB Verlag Francke, München 1980.

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 6. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011.



0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page