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  • AutorenbildDer schwarze Peter

Wie hört das auf, wie wird das weitergehn?

Aktualisiert: 22. Okt. 2023

Unseren Philosophen treffen die durch Corona bedingten Ausgangsbeschränkungen weniger hart als manch andere Menschen. Warum? Weil er genügsam ist und gesellschaftlich ohnehin zurückgezogen lebt. Er mag es schon in normalen Zeiten nicht, wenn ihm andere auf die Pelle rücken.

Allerdings gedenkt seine Patentochter diesen Frühsommer ihre Volljährigkeit im großen Stil zu feiern. Sein Erscheinen ist Pflicht. Was schenkt man einem Nahestehenden zu einem so wichtigen Wendepunkt im Leben? Unser Philosoph ist Pragmatiker. Junge Menschen haben viele materielle Wünsche. Deshalb wird sie sich über einen Goldbarren freuen. Kurz entschlossen marschiert unser Philosoph in seinen Keller und zieht einen 100 Gramm-Barren aus dem Regal. Verpackt in durchsichtige Folie wird das Präsent Eindruck machen. So viel vorweg: es wird wegen Corona anders kommen. Aber zu der Zeit denkt sich unser Philosoph noch, dass der Kelch an Deutschland vorbeigehen wird. Schließlich beschränkten sich solche von Tieren übertragenen Seuchen bis jetzt immer auf China oder andere weit entfernte Länder. Irgendwie gerecht, denkt er sich. Schließlich essen wir, von Weißwürsten und Pfälzer Saumagen abgesehen, nicht so exotische Sachen wie die Chinesen.


Aus diesem naiven Schlummer hat ihn die jüngste Entwicklung gerissen. Er fragt sich, ob die Feier stattfinden wird und wenn ja, ob es in dieser Zeit des Mangels nicht sinnvollere Geschenke als schnödes Gold gibt. Ein Blick in die Nachrichten öffnet ihm die Augen. Kein Goldbarren soll es werden, sondern Klopapier. Das ist momentan gefragter. Also muss er sich ranhalten, um ein paar Packungen 5-lagig zu ergattern. Das Hamstern von Klopapier scheint eine deutsche Eigenart zu sein. Vielleicht hat es etwas mit Freuds analer Phase zu tun. Präziser gesagt, mit deren Nichtüberwindung. Die Franzosen hingegen bunkern Rotwein und Kondome. L’art de vivre! Mit einer Erhabenheit, die dem deutschen Wesen fremd ist, ringen unsere Nachbarn auch dieser Krise genussvolle Momente ab. Immerhin, in dieser Situation scheinen sich Vorurteile und Klischees zu bestätigen: die Amis horten Waffen und Patronen, die Niederländer Haschisch und Cannabis. Die Gedanken unseres Philosophen springen hin und her. Im Vorbeigehen an einem Kiosk liest er die Schlagzeile: „Mehrheit der Menschen in Deutschland ist für die Ausgangssperre“. Unser Philosoph hat den Verdacht, dass viele Menschen, unabhängig von der Ansteckungsgefahr, froh sind, nicht mehr ständig aus dem Haus gehen zu dürfen. Eine behördlich erzwungene Entschleunigung. So wie der Workaholic einen Burnout als Legitimation benötigt, um sich eine Auszeit zuzugestehen. Bei Corona kommt hinzu, dass man nicht als einziger zu Hause sitzt, während die Kollegen produktiv sind und ihre Karrieren vorantreiben. Bei dieser Pandemie bleibt die berufliche Überholspur leer. Unser Philosoph rekapituliert: Die staatlich angeordnete soziale Isolierung trifft bei vielen Menschen auf eine latente Rückzugssehnsucht. Die Menschen werden zu etwas gezwungen, nach dem sie sich im Innersten sehnen. Allerdings ist der Mensch auf Gemeinschaft hin ausgerichtet, er ist ein soziales und politisches Wesen - ein zoon politikon. Der Mensch möchte mit anderen kooperativ zusammenleben. Er braucht die anderen, um das in ihm Angelegte zur Entfaltung zur bringen. Nur unter diesen Bedingungen kann er sich ver-wirklichen. Für Aristoteles ist das, zusammen mit der Vernunft- und Sprachfähigkeit, der Grund, warum sich Menschen zu staatlichen Gemeinschaft zusammenschließen:


"Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann oder ihrer nicht bedarf, der ist kein Teil des Staates, sondern ein wildes Tier oder Gott." (Aristoteles)

Das allem übergeordnete Ziel, das gelungene Leben, kann laut Aristoteles nur in der Gemeinschaft verwirklicht werden. Auch aus diesem Grund ertragen die Wenigsten soziale Abgeschiedenheit über einen längeren Zeitraum emotional unbeschadet. Sich zu isolieren entspricht nicht der menschlichen Natur. Vielmehr ist der Mensch ein Nähe-Distanz-Regler. Was bedeutet das? Der Einzelne möchte situativ den Grad der Nähe oder Distanz bestimmen. Diese Entscheidungsfreiheit ist in Zeiten von Corona eingeschränkt. Das ist zugleich ein Kontrollverlust, der sogar unserem Philosophen zu schaffen macht. Unterhaltungen per Telefon und virtuelle Begegnungen via Skype können das im Menschen angelegte Bedürfnis nach Gesellschaft nur begrenzt kompensieren. Deshalb wird die Zeit des erzwungenen Rückzugs den Wert menschlicher Beziehungen verdeutlichen. Diesbezüglich ist sich unser Philosoph sicher. Nicht sicher ist er sich, wie lange diese Erkenntnis gesamtgesellschaftlich wirken wird. Vielleicht, so seine Hoffnung, wird es nach Corona nicht mehr so stark darum gehen, auf oberflächliche Weise mit möglichst vielen Menschen real und virtuell vernetzt zu sein. Er hofft, dass sich das Augenmerk stärker auf die Qualität und Tiefe der Beziehung richtet. Freundschaften und Liebesbeziehungen stellen einen Wert an sich dar, sie sind ein integraler Bestandteil des gelungenen Lebens (der eudaimonia). Deshalb könnten Schönwetter-Beziehungen im Anschluss an die Pandemie an Bedeutung verlieren. Auf der Terrasse liegend, erholt sich unser Philosoph von diesen anstrengenden Gedanken. Ermattet blickt er in den wolkenlosen Himmel - und registriert eine Veränderung. Während in Normalzeiten Hubschrauber und Flugzeuge im Minutentakt seine Nerven aufs Äußerste strapazieren, herrscht jetzt Ruhe. Nicht ein einziger Kondensstreifen zerschneidet das gleichmäßige tiefe Blau. Wäre der Grund nicht so ernst, er würde sich die paradiesisch anmutende Stille als Dauerzustand wünschen. Literatur Aristoteles: Politik, 10. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006.

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