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Zwei Boomer philosophieren - Teil 2

Die Philosophie kann ein einsames Geschäft sein. Die meisten Menschen vertragen philosophische Unterhaltungen nur in homöopathischer Dosierung. Getreu dem Motto: Ist das Leben eh schon schwer, kommst auch noch Du daher.


Umso schöner, dass sich mit Axel Stöcker ein gehaltvoller, aber keineswegs deprimierender Gedankenaustausch ergeben hat. Wir wollen ihn fortführen und vielleicht Teile davon in losen Abständen veröffentlichen.



Chiemgau/Deutschland


Lieber Axel,

 

die gute alte Sinnfrage… nicht totzukriegen. In letzter Zeit quält sie mich allerdings nicht mehr so intensiv. Vielleicht liegt es daran, dass mein Leben gerade außergewöhnlich ruhig verläuft. In beruflicher Hinsicht sorgt die Kombination aus solipsistisch geistiger Tätigkeit (mein Blog) und menschlich herausfordernder Arbeit (meine Arbeit als Fahrradverkäufer) für einen Ausgleich.

 

Wie Du vielleicht weißt, habe ich aus selbstsüchtigen Gründen Philosophie studiert. Es war zunächst nicht mein Anliegen, die Welt mit meinen überschaubaren philosophischen Erkenntnissen zu beglücken. Vielmehr erhoffte ich mir Antworten auf die Sinnfrage und ein Instrumentarium, um mit Wechselfällen des Lebens besser umgehen zu können. Kurz gesagt: Die Philosophie hatte eine therapeutische Funktion. Sie sollte mich auf schlechte Zeiten vorbereiten.

 

Tatsächlich hätte ich ohne die Philosophie nicht zu meiner derzeitigen Seelenruhe gefunden. Ich glaube zudem, dass mir die Philosophie bei der Bewältigung der Verluste in diesem Jahr geholfen hat. Wie auch immer, mein zentrales Lebensproblem (Wozu die ganze Schinderei?) ist verschwunden oder wenigstens vorübergehend untergetaucht.

 

Das bringt mich zu einem interessanten, weil verwirrenden, Wittgenstein-Zitat:

 

„Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist dies nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?)“

 

Wenn ich meinen damaligen Professor richtig verstanden habe, lösen sich Lebensprobleme nicht allein durch das Philosophieren, sondern durch Veränderungen des Lebens. Das ist die praktische Schraube, an der ich gedreht habe. Früher oft erfolglos oder in die falsche Richtung. Aber nun scheint es geklappt zu haben. Ob es ohne die Philosophie geklappt hätte?

 

Dass wir uns über unsere Blogs kennengelernt haben, gibt meinem Leben einen zusätzlichen Sinn. Oder, um Wittgensteins Gedanken aufzugreifen, diese Begegnung trägt positiv zur Fülle meines Lebens bei und lässt die Sinnfrage in den Hintergrund treten. Übrigens wird es Zeit, dass wir uns trotz der enormen geografischen Distanz eines Tages in persona treffen.

 

Tja, die Zeit. Mit zunehmendem Alter rinnt sie wie Sand durch die Finger. Dieses Jahr war ein Hauch… kaum da, schon wieder vorbei. Aber: Während mir inzwischen ein Jahr wie ein Monat vorkommt, fühlen sich Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse wie aus einem anderen Leben an. Wenn ich daran denke, wie ich vor 40 Jahren mit meiner ersten großen Liebe im Golf GTi Richtung Jesolo rauschte, dann hat das kaum noch etwas mit mir zu tun. Mein Leben fühlt sich mal kurz, dann wieder sehr lang an – wie ein Gummiband.

 

Ich habe gelesen, dass Du im kommenden Jahr Lesereise durch Deutschland planst, um Deinen neuen Roman über das Bewusstsein vorzustellen. Sei nicht überrascht, wenn Du mich bei passender Gelegenheit im Publikum siehst. Ich freue mich jedenfalls schon sehr darauf.

 

Liebe Grüße


Peter




Alicante/Spanien


Lieber Peter,

 

ich hatte dich ja in meinem letzten Brief gefragt, was da auf mich zukäme, beim – erhofften – Einzug der Reife. Befreiendes oder Belastendes? Jetzt nehme ich trotz der Schläge, die Du einstecken musstest, eine positive Grundstimmung in Deinem Brief wahr. Oder ist das vielleicht gar kein „trotz“, sondern ein „gerade deshalb“? Jedenfalls freut mich das sehr für Dich und mich beruhigt es ein wenig.

 

Aus „selbstsüchtigen Gründen“ Philosophie studieren – das ist eine nette Formulierung, wenn man in die Welt schaut und sieht, wie viele Vergehen aus Selbstsucht begangen werden (in gewissem Sinne vielleicht sogar alle?). Da scheint ein Philosophiestudium eine lässliche und zudem sehr kultivierte Sünde zu sein. Und dennoch verstehe ich, was Du meinst. Ich verstehe es sehr genau. Du hast Zeit für Dich selbst aufgewendet, viel Zeit, so wie ich für meinen Roman. Diese Zeit hätte man für etwas Sinnvolles nutzen können. Zum Beispiel belegte Brote an Obdachlose verteilen, was eine Bekannte von mir macht, wie ich kürzlich erfuhr. Den Hunger des Nächsten stillen – dagegen erscheint alles andere als eitles Unterfangen. Kann es etwas Sinnvolleres geben? Wären wir nicht eigentlich moralisch verpflichtet, einen Großteil unserer Freizeit in solche Tätigkeiten zu stecken, statt Stunde um Stunde vermeintliche Weisheiten zu studieren oder Blätter mit fragwürdigen Geschichten zu füllen? Ginge es dann nicht allen besser?

 

Ich habe keine abschließende Antwort auf diese Frage. Dass ich meinen Hut vor karitativem Engagement ziehe, versteht sich von selbst. Ich bin nur skeptisch geworden bei diesen einfachen Antworten, die sich so wahnsinnig gut anhören. Geht Dir das auch so? Das Problem dabei scheint mir, dass allzu schlichte Ideen dem Menschen nicht gerecht werden. Es ist ein bisschen wie beim Kommunismus, der sich im ersten Moment ja auch gut anhört. Deswegen würde ich für unsere Tätigkeiten in Anspruch nehmen, dass wir sie tun, weil wir nicht anders können, weil sie zutiefst menschlich sind und wir deshalb auch nicht darauf verzichten sollten. Die empirischen Belege dafür sind erdrückend, meine ich. Von den Homer bis Kant, von Bach bis zu den Beatles. Nicht dass wir uns mit denen messen könnten, aber wir dürfen uns dennoch strebend bemühen, weil das in unserer Natur liegt.

 

Arbeiten wir uns also am Problem des Lebens ab. Dessen Lösung sei sein Verschwinden, schreibt Wittgenstein also und Dein Professor sagte, man löse es nicht durch Philosophieren, sondern durch Veränderung des Lebens. Man kann die Antwort also nur erleben, aber nicht aussprechen? Leben statt Argumentieren? Ist das der letzte Trumpf gegen den Nihilismus?


Vielleicht nicht. Du weißt, dass „Bewusstsein“ eines meiner Lieblingsthemen ist. Da beschleicht mich in letzter Zeit auch das Gefühl, dass man hier in Bereiche vorstößt, die fraglos existent, aber sprachlich nicht wirklich fassbar sind. Das führt mich zu einem Satz von Pascal Mercier (alias Peter Bieri, Du weißt, er spielt in meinem Roman eine große Rolle), der leider kürzlich verstarb und der mich an Dein Wittgenstein-Zitat erinnerte. In seinem Roman „Das Gewicht der Worte“ erzählt er vom „Mysterium des Schreibens“, der Verwandlung von „Erfahrung in Fiktion“ uns lässt eine seiner Figuren sagen:

„Es geht nicht darum, das Mysterium zu verstehen, es geht nur darum, es zu leben.“

 

Da haben wir es wieder. Leben ersetzt das Verstehen und das Interessante dabei ist: „Leben“ steht in diesem Kontext ja synonym für „Schreiben“. Schreiben hat also eine besondere Qualität, denn zwar ist es nicht gleichbedeutend mit verstehen, aber es stellt immerhin eine Verbindung zum Mysterium her. In Merciers Roman ist viel von Poesie die Rede. Ich halte es inzwischen für möglich, dass bestimmte Phänomene nur mit einer bildhaften, poetischen Sprache erfasst werden können. Sie ist kein Ersatz für eine wissenschaftliche Beschreibung, aber sie stellt Nähe zu einem unverstandenen Phänomen her, vielleicht so, wie ein Gedicht Nähe zu einer unverstandenen Person herstellen kann. Ist das vielleicht auch der positive Beitrag zur „Fülle meines Lebens“, den Du angesprochen hast? Wittgensteins berühmten Ausspruch, dass man über das, was man nicht klar sagen kann, schweigen solle, würde ich daher relativieren. Für die der Wissenschaft würde ich ihn unterschreiben, aber nicht für den Kosmos unseres Erlebens.

 

Ein Treffen zwischen uns würde zur Fülle meines Lebens auf jeden Fall beitragen! Lass uns das in Angriff nehmen und lass uns weiter das „Mysterium des Schreibens“ pflegen.

 

Liebe Grüße

 

Axel





 


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