Berühmte Cocktails: Schierlingsbecher
- fowlersbay

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Er steht auf keiner Getränkekarte. Gut so, denn es bliebe beim einmaligen Genuss. Der Schierlingstrank ist nämlich tödlich. Das wohl berühmteste Opfer dieses bitteren Gebräus ist Sokrates (469-399 v. Chr.).

Der hatte sich (angeblich) der Gottlosigkeit und intellektuellen Verführung Jugendlicher schuldig gemacht. Beides keine Straftaten, die mit dem Tode bestraft wurden. Da die Anklageschrift nicht überliefert ist, liegen die genauen Umstände für den Prozess im Dunkeln. Hinzu kommt, dass Sokrates nicht einen selbst geschriebenen Satz hinterlassen hat.
Was wir haben, ist die Verteidigungsrede in Form von Platons Dialog Apologie. Dort lässt sich herauslesen, dass Sokrates mit dem Urteil „Tod durch den Schierlingsbecher“ aufgrund von Verleumdungen Unrecht widerfahren ist.
Charaktersache
Wie es auch gewesen sein mag: In der Gerichtsverhandlung verweigerte Sokrates die Lossagung von kritischem Gedankengut. Die heute so populären Unterwerfungs- und Wiedergutmachungsgesten waren nicht sein Ding. Stattdessen trieb er mit seinen geschliffenen philosophischen Argumenten die Richterschaft in die Enge. Das Resultat dieser Strategie kennen wir.
Was hat Sokrates wirklich in diese missliche Lage gebracht? Kurzer Einschub: Im Gegensatz zu den Vor- oder Nichtsokratikern interessierte er sich nur am Rande für Fragen rund um die Entstehung des Kosmos. In dieser Hinsicht war ihm nichts vorzuwerfen. Aber er hat:
„als erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt […] und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten, dem Guten und dem Schlechten zu fragen“ (Cicero über Sokrates)
Das war ein philosophiegeschichtlicher Wendepunkt: So weit wir wissen, hat kein bekannter Denker vor ihm die Frage nach dem gelungenen Leben in den Mittelpunkt gestellt. Also Fragen, die „unseren Charakter, unser Handeln betreffen“ (Michael Bordt).
In Sokrates‘ Lebenszeit fiel der Peloponnesische Krieg (431-404 v. Chr.). Angesichts der politisch zerrissenen Lage stellte er sich (und anderen) die Frage, wie man angesichts all des Leides ein glückliches Leben führen kann. Spoiler: Indem man sich zuvorderst um seine Seele kümmert.
Dieser Wille, so Sokrates, ist bei den meisten Menschen nur schwach ausgebildet. Sie schätzen es nicht, wenn ihnen jemand den Spiegel vorhält.
Der Weiseste
Jedenfalls schwirrten Sokrates noch immer die Worte der Priesterin Phytia aus dem 200 Kilometer entfernten Delphi im Kopf umher. Sie soll gesagt haben, dass es keinen weiseren Mann als ihn gäbe. Wie kann das sein? Er selbst war nämlich überzeugt, nicht weise zu sein, weder in Bezug auf große noch auf kleine Dinge.
Um Klarheit zu bekommen, machte er sich auf den Weg zu Menschen, die sich als Fachleute auf ihrem jeweiligen Gebiet verstanden. Dabei stellte er fest, dass sie nicht das besaßen, was sie zu haben vorgaben: Weisheit.
Übrigens unterschied Sokrates zwischen Fachwissen und lebensrelevantem Wissen. Die Handwerker, Feldherren und Priester waren Sokrates im Hinblick auf Fachwissen überlegen. Aber sie hatten allesamt den gleichen Charakterfehler: Aufgrund ihres Fachwissens glaubten, sie, über umfassende Weisheit zu verfügen.
Wie hat er das festgestellt? Indem er beispielsweise den berühmten Feldherrn Laches (460-418 v. Chr.) fragte, was Tapferkeit ist. Sokrates suchte nach der Definition von Tapferkeit.
Stattdessen schwadronierte Laches lediglich über seine militärischen Erfolge. Offensichtlich hatte er nicht verstanden, worauf Sokrates hinauswollte. Auf die Fragen und Einwände von Sokrates fand er keine befriedigenden Antworten.
„Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar, weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhasst ward und vielen der Anwesenden.“ (Apologie 21d)
Immerhin wusste Sokrates nun, was mit dem Orakelspruch gemeint war.
„Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“ (Apologie 21e)
Auf diese Weise klapperte Sokrates einen Experten nach dem anderen ab. Die Erkenntnis war stets die gleiche. Alle glaubten, über ihr Fachgebiet hinaus Wissen und Weisheit zu besitzen.
Die Form der Weisheit, um die es Sokrates ging, war kein positives Wissen (Fachwissen), sondern ein Zustand der Bewusstheit (also der eigenen Beschränktheit). Wer jetzt an Karl Popper denkt, liegt richtig.
Spiel mit dem Feuer
Immerhin sind Sokrates aus diesen Nachforschungen viele Feindschaften entstanden. Denn ausgerechnet die Söhne dieser einflussreichen Bürger gehörten zu seinen glühendsten Anhängern. Wie der Lehrmeister, begannen auch sie, die Oberen in Unruhe zu versetzen. Sokrates konstatierte nüchtern:
„Deshalb nun zürnen die von ihnen [Sokrates‘ Anhängern, Anm. d. Verf.] Untersuchten mir und nicht sich und sagen, Sokrates ist doch ein ganz ruchloser Mensch und verdirbt die Jünglinge.“ (Apologie 23d)
Das war es wohl, was Sokrates – im übertragenen Sinn – den Kopf gekostet hat. Dabei hatte sein Freund Krition alles für eine Flucht aus dem Gefängnis vorbereitet. Sokrates lehnte dankend ab. Er war der Ansicht, dass man Unrecht nicht mit Unrecht vergelten darf. Da es besser ist, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun, akzeptierte er das Todesurteil.
Es ist fraglich, ob dieser letzte Teil des Dialoges mit Krition stattgefunden hat. Tatsächlich mutet er weltfremd an… genau das, was die Philosophie am wenigsten gebrauchen kann.
Was nutzt uns das?
Zum Beispiel, dass die alte Weisheit „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ wahr ist. Wer erinnert sich nicht an die Corona-Zeit, als Epidemiologen, Politiker und Journalisten haufenweise zu Virologen mutierten. Es war eine Zeit, in der viele Akteure versuchten, ihren politischen Einfluss zu vergrößern. Dabei machten auch einige Philosophinnen und Philosophen eine unglückliche Figur. Sie sind in die Hybris-Falle getappt. Kurz gesagt: Mit Sokrates wäre ihnen das wahrscheinlich nicht passiert.
Etwas Tröstliches zum Schluss
Soweit wir wissen, hat Sokrates sein Urteil tapfer und ohne zu murren akzeptiert. Mehr noch, er hat sich laut Platon sogar auf den Tod gefreut. Wie das? War er schon vor dem Todesurteil seines Lebens überdrüssig? Vermutlich nicht, aber wähnte sich ohnehin auf dem Höhepunkt seines Lebens. Zudem hielt er – und das ist der ausschlaggebende Faktor – die Seele für unsterblich.
Literatur
Bordt, Michael: Vorlesung Philosophiegeschichte des Altertums, Hochschule für Philosophie München, Wintersemester 2012/2013.
Platon: Apologie, sämtliche Werke. Band 1, 32. Auflage, Rowohlt, Hamburg 2011.






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