Lasst-uns-ein-Zeichen-setzen! Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gibt es angemessene Solidaritätsbekundungen und absurde Übersprungreaktionen.
Dem ersten Empörungsimpuls nachgebend, hat die italienische Universität Mailand-Bicocca ein Seminar über den Schriftsteller Fjodor Dostojewski auf unbestimmte Zeit verschoben – de facto gestrichen. Warum? Weil er ein Russe ist. Pardon, war. Dostojewski hat nämlich vor 140 Jahren das Zeitliche gesegnet. Was ihn nicht davor bewahrt, jetzt am öffentlichen Pranger zu stehen.
Wie kommt man darauf, einen zweifelsfrei Unbeteiligten in Mithaftung zu nehmen? Es drängt sich ein Begriff mit miserablem Ruf auf: die Kollektivschuld (gewürzt mit einer Prise Erbschuld). In Krisenzeiten taucht sie ungebeten, aber zuverlässig auf. Wir werden uns diesem Phänomen in Anlehnung an Frank Königs Aufsatz Kollektivschuld und Erbschuld nähern.
Meine Schuld… unsere Schuld… Kollektivschuld
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Siegermächte befugt, jeden Deutschen aufgrund seiner „bloßen Zugehörigkeit zu einer für verbrecherisch erklärten Gemeinschaft den Prozess zu machen“ (Franz König). Der Einzelne galt durch das Kontrollratsgesetz des Londoner Viermächteabkommens kraft seines Deutschseins als schuldig. Erstmals wurde der Geltungsbereich einer verbrecherischen Organisation (in diesem Fall des Naziregimes) auf ein ganzes Volk ausgedehnt. Jeder Deutsche konnte ohne den Nachweis einer persönlichen Tat oder Unterlassung verurteilt werden.
Diese Vergemeinschaftung führte zu einer neuen Schuldkategorie sowie zu einem moralischen und juristischen Problem, denn:
Die Kollektivschuld ist eine Form der Schuld
ohne die Möglichkeit der Unschuld.
Das Prinzip aufgeklärter Gesellschaften, dass Schuld ein individuell zurechenbares bewusstes Handeln oder Unterlassen voraussetzt, verlor seine Gültigkeit. Entsprechend hoch war der Wellenschlag:
„Nichts hat die geistige Situation […] 1945 in Deutschland mehr belastet, als der Begriff der Kollektivschuld, die damals wie ein Gespenst auftauchte und die Gemüter verwirrte.“ (Werner Schöllgen)
Daraus hat sich in der Philosophie, Theologie, Psychologie und Rechtswissenschaft über Deutschland hinaus eine Auseinandersetzung über das Wesen und die Möglichkeit der Kollektivschuld entwickelt (König). Vor allem den
„Juristen war die Konstruierung [sic] eines schuldbaren Tatbestandes durch die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft neu.“ (König)
Sie wollten wissen, mit welcher Begründung der bewährte Grundsatz Kein Verbrechen, keine Strafe (nulla poena sine lege) ausgehebelt wurde. Sie fürchteten, dass damit der Willkür Tür und Tor geöffnet werden könnte.
Adam, was hast Du getan?
Im Gegensatz zu den weltlich orientierten Juristen glaubten die Theologen an die Möglichkeit der Kollektivschuld als eine Folge der Erbsünde. Sie ist eine dem Menschen anhaftende und von persönlichen Verfehlungen unabhängige Schuld.
„Wieso können wir durch die Erbsünde schuldig sein? [D]ie schuldige Tat Adams ist offensichtlich ohne unsere Mitwirkung geschehen.“ (König)
Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu verstehen, wie die Erbsünde zur Kollektivschuld werden konnte.
Eine Erklärung ist physischer Natur: Die gesamte Nachkommenschaft Adams war bereits in dessen „Samen“ enthalten. Bei der Erbsünde handelt es sich demnach um eine Schuld, die im Keim allen Menschen innewohnt und einen nie gutzumachenden Makel, eine magische Verunreinigung (C. G. Jung), darstellt.
„Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ (Röm 5, 12)
Darüber hinaus gibt es einen moralischen Ansatz, nach dem sich alle Menschen in Adams Lage genauso verhalten hätten. „Deshalb wird allen die Tat des Adams zugerechnet.“ (König)
Dabei hätte die von Gott in Adam angelegte Urgerechtigkeit durch Fortpflanzung vererbt werden sollen. Soweit die Annahme vieler Theologen. Diese Gnade Gottes hat Adam – und mit ihm die gesamte Nachkommenschaft – ohne äußeren Druck verwirkt.
Im Gegensatz zur Kollektivschuld beraubt die Erbsünde nur übernatürlicher Güter: die Schau Gottes, ein paradiesischer Zustand nach dem Tod. Was die Erbsünde und die Kollektivschuld verbindet: Negative Konsequenzen können durch Buße (Beichte, öffentliche Distanzierung von einem Despoten) abgefedert werden.
Die Elemente der Kollektivschuld
Wenn britische Politiker und Veranstalter von dem Tennisspieler Daniil Medvedev eine klare Verurteilung Putins verlangen und im Fall der Unterlassung mit dem Wimbledon-Ausschluss drohen, dann deshalb, weil er Russe ist. Er steht wegen seiner Herkunft an der Kippkante vom Kollektivverdacht zur Kollektivschuld. Wie es für ihn weitergeht, hängt von seiner Positionierung ab. In der aufgeheizten Stimmung reicht es nicht, wenn er sich für Frieden ausspricht und betont, dass es für ihn schwer sei, sich zu politischen Themen zu äußern. Vielleicht sind es die familiären Bindungen in der Heimat, die ihn hindern, klar Stellung zu beziehen.
Der Begriff der Kollektivschuld ist bei näherer Betrachtung „reichlich unscharf“. Aber es gibt einige allgemeine Grundelemente.
Es handelt sich um eine eigene Schuldkategorie, die sich von der individuellen Schuld unterscheidet. Die Kollektivschuld ist zudem mehr als die Summe aller persönlichen Einzeltaten der betreffenden Gemeinschaft.
„Kollektivschuld kann es nur dort geben, wo eine ‚schuldlose‘ (im persönlichen Sinne) Teilnahme eines einzelnen Gliedes an einer schuldig gewordenen Gemeinschaft vorliegt.“ (König)
Das Individuum gerät dabei trotz persönlicher Unschuld (Medvedev ist vermutlich nicht für den Krieg in der Ukraine mitverantwortlich) in eine moralische Schuld. Als einzelner ist er ein Mitträger des Gemeinschaftsgeistes. Diese Schlussfolgerung ist nah an der theologischen Sichtweise.
Der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) lehnte es zumindest vordergründig ab, ein Volk wie ein Individuum und den Einzelnen wie eine Gemeinschaft zu betrachten. Denn:
„Ein Volk als Ganzes kann nicht schuldig und nicht unschuldig sein, weder im kriminellen noch im politischen noch im moralischen Sinne.“ (Jaspers)
Dennoch: Die Sanktionierung des Sportlers Medvedev zeigt den zügigen Übergang von der Kollektivschuld (er ist Russe) hin zur Individualschuld (mangelnde Opposition zu Putin, die als indirekte Sympathiebekundung ausgelegt wird).
Der Philosoph und bayerische Kulturstaatsminister a. D., Julian Nida-Rümelin, warnt im Hinblick auf diese Form der Bekenntnispflicht vor einem Rückfall in dunkle Zeiten. Er erinnert an die Kommunistenverfolgung in den USA der 1950er Jahre, als
„Künstler gecancelt und politisch verfolgt wurden, wenn sie sich nicht öffentlich vor der McCarthy-Kommission vom Kommunismus distanziert haben.“
Eine derartige Gesinnungsprüfung, so sein Fazit, passt nicht zu einer freiheitlichen Demokratie. Nach C. G. Jung ist sie außerdem eine höchst altertümliche und primitive Unreinheit.
Viktor Frankl, der feinsinnig zwischen strafrechtlicher Schuld und moralischer Verantwortung unterschieden hat, bringt es auf den Punkt:
„Kollektivschuld ist ein hundertprozentig nicht akzeptables Konzept.“
Literatur
Die Bibel: Einheitsübersetzung Altes und Neues Testament, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2008).
Dams, Jan: Ex-Staatsminister warnt vor Gesinnungsprüfung für Künstler, in: Welt-Online vom 12.03.2022, https://www.welt.de/wirtschaft/article237477427/Julian-Nida-Ruemelin-Es-darf-keine-Gesinnungspruefungen-von-Kuenstlern-geben.html?icid=search.product.onsitesearch (abgerufen am 20.03.2022).
Jaspers, Karl: Philosophie II. Existenzerhellung, 4. Auflage, Springer-Verlag, Heidelberg 1973.
König, Franz: Kollektivschuld und Erbschuld, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 72, Nr. 1 (1950), Seite 40–65, http://www.jstor.org/stable/24179677, abgerufen am 20.03.2022.
Schöllgen, Werner: Schuld und Verantwortung, Bastion Verlag, Düsseldorf 1947.
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